Verlassen

Märchen zum Thema Kritik/ Kritiker

von  Lala

Verlassen

So stapfte Gnorp, weder links noch rechts schauend, durch die Welt der Lybits. Die Lybits, an denen er vorüber kam, waren so perplex, dass sie erstarrten und sich eine ganze Weile nicht mehr rührten. Als sie wieder zu sich kamen, war Gnorp schon hinter der nächsten Biegung verschwunden und so glaubten die Lybits, sie hätten wohl geträumt und bekümmerten sich nicht mehr.

Metrik selbst lag auf einem Hügel in einem dichten Wald, der Vorwortwald oder auch Grüßkekstann genannt wurde. Wer sich hier traf, sprach sich ein freundliches „Grüß Keks“ zu und stellte sich in freundlichem Plauderton vor. Die Lybits mochten es sehr zu plaudern, weil sie von Natur aus neugierig waren und wissen wollten, wer mit ihnen in ihrer Welt lebte.

Zurzeit aber mieden sie den Wald, weil sich ein unbekanntes Tier dort eingenistet hatte. Da die Lybits in der Regel von kleiner Statur, eher ängstlich und alles andere als wagemutig waren, warteten sie lieber ab, was Lord Elf Gin und sein Vize Kalterersee in der Sache unternehmen würden. Elf Gin hatte das Tier schon in Augenschein genommen, aber sich nur insofern vernehmen lassen, dass er es vielleicht erschießen müsse, auch wenn es selten sei. Vor allem aber hatte er geflucht, weil er in die Haufen dieses Tieres gelatscht war und es ihm mindestens ein Ohr abgekaut hatte.

„Er quatscht ununterbrochen. Un-un-ter-bro-chen!“, fluchte Elf Gin, jede Silbe lang betonend, unter der breiten Krempe seines Schlapphuts, während er durch den Grüßkekstann streifte und bisweilen auf einem Bein hüpfen musste, weil er mit einem seiner Stiefel wie so oft in einen Haufen gelatscht war.

„Es labert. Es labert! Es nervt!“, grummelte Gin und so unwirsch hatten die Lybits ihren König selten gesehen. Er galt sonst als ausgeglichen und bescheiden und liebte es, unterschätzt zu werden. Wer Elf Gin bestechen wollte, sollte ein Bonbon in seiner Tasche tragen und keine klingenden Münzen, aber auch Süßkram hortete Elf Gin schon mehr als genug in seinen weiten Taschen.

Und Kalterersee? Und dessen Knappe? Die hatten alle Hände voll zu tun, weil nicht nur Gnorp und ein älterer Troll mit Metapherkappe neugierig geworden waren und zum Wald wanderten, sondern auch viele andere sich unter mannigfaltigsten Tarnkappen nach Metrik, beziehungsweise deren Wäldern pilgerten.

Kalterersee musste in den letzen Tagen einmal zu oft, auf dem Rücken seines Rosses Pink Maiden sitzend, vom Feldherrnhügel aus beobachten, wie Kruzifix Trolle jagte, fand und platzen ließ. Kruzifix war ganz Feuer und Flamme. Kruzifix kannte keine Gnade und Kalterersee wusste, warum Kruzifix kein Jota gewährte.

Wenn Kalterersee nachts, nachdem er bis in den Abend die Trolle gehetzt hatte, wieder in seiner gemütlichen und sauberen Oberwelthöhle saß, dem prasselnden Holz im Kamin lauschte und an die grünen Auen Lybiens dachte, dann sah er unvermittelt seinen Knappen, wie der, schon mit grünem Trollblut übergossen, seinen Dolch auch noch durch drei Mal geschlachtete Trolle hieb und vor Freude grunzte.

Kalterersee wusste, welche Traumata sein Knappe in diesem Auge um Auge, Zahn um Zahn-Spiel verarbeitete, wusste, dass es nicht schwarz oder weiß in der Welt zuging. Die Welt war grau, so wie der Qualm, den er inhalierte und der aus seinem Pfeifenkopf drang. Er wusste, dass jeder Lybit, wenn er einen Wohlklang, eine Harmonie hörte, sich von einem einzigen Satz, einem Wort so getroffen fühlte, wie von einem Pfeil, sein Herz öffnete und die Welt um sich herum vergaß und sich gehen lassen konnte. Kalterersee stopfte seine Pfeife nach, denn er wusste nur zu gut, wie sehr sich ein Lybit gehen lassen konnte.

Der Vizelord heizte den Tabak im Kopf wieder an und lehnte sich zurück und just in diesem Moment hörte er hinter sich ein Schlagen, wie von Schwingen. Es kam von der Luke, die er immer offen ließ, weil er seine Höhle nicht mit einem Sarg verwechseln wollte. Kalterersee blies den letzten Qualm aus seinen Lungen, drehte seinen Kopf zur Seite und war nicht überrascht, einen Raben zu erblicken, der ohne Scheu sich auf seiner Fensterbank niedergelassen hatte.

„All mein Trachten, all mein Sehnen? Bleibt unerreichbar vor der Tür“, deklamierte Kalterersee mit verlorener Sehnsucht, schaute weiter auf den Raben und sog erneut an seiner Pfeife. Als er ausblies, sprach er so, als hätte der Rabe ihm geantwortet:
„Wenn ich jetzt nicht gebe, werd’ ich nicht mehren. Wer nur wehrt, wird nichts gewinnen?“

Der Rabe schwieg, stelzte ein, zwei Schritte über die Bank, spreizte seine Flügel und drohte abzuheben, verharrte aber in der Position, drehte seinen Kopf und schien Kalterersee direkt anzusehen. So verharrten die Gestalten für Momente. Kalterersee begann zu zittern und hatte Mühe sich zu kontrollieren und ohne dass ein Wort gefallen wäre, fragte er: „Flieg ich nicht, dann flieg ich nimmermehr?“

Der Rabe aber schwieg und erhob sich wieder in die Nacht von Lybien.

Kalterersee stand auf, ging an sein Fenster und sein Blick schweifte über die nur von Kerzenlicht erleuchteten Hügel und suchte den Pfad, der zum See an den Weiden führte, wo sich der Mond im Wasser spiegelte und er sie damals schnell umgarnt und auch sich selbst hatte bezirzen lassen. Es war ein Wechselspiel der Worte, ein Ineinandergreifen der Kadenzen, aber nur ein Sprung für eine Nacht gewesen. Er schloss seine Augen, klappte die Fensterluke zu und flüsterte: „Nimmermehr!“

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