In Metrik

Märchen zum Thema Kritik/ Kritiker

von  Lala

In Metrik

Angesichts eines hysterischen Lybit-Mobs, fiel Gnorp das Lächeln wesentlich schwerer, als beim Abschied vom eitlen Löwen mit seinem Silberdings. Jetzt, war er auf dem Marktplatz von Metrik am Pranger angebunden, wurde mit Pampenpiken drangsaliert und musste dem Knappen Kruzifx, der mit einem Stiefel auf seinem Hinterhaupt stand, zuhören, welche Vergehen er begangen hätte.
Es war keine vierundzwanzig Stunden her, dass er, verborgen unter der Brötchentüte des Löwen, eines der zwölf Stadttore Lybiens passiert hatte.

Metrik war sauber, ausgefegt und bis in den letzten Winkel poliert. Es gab zwölf Tore und von diesen Toren schlängelten sich zwölf Wege zunächst verschlungen gestaltet wie Pfade in einem englischen Park, vorbei an Flüssen, Weiden und Seen. Aber sehr bald schon schnürten alle Straßen streng, strahlenförmig und steigend zum Marktplatz Metriks und dem Pranger hin, an dem die Lybits bis dato unter Hosianna und Hol ihn der Teufel Gesängen die Trolle platzen ließen.

Gnorp, als er mit seiner Nase das erste Mal um eines der Tore gelugt hatte, war beeindruckt, von Metriks Dimensionen.

Die Torwächter hatten so viel um die Ohren, dass, sie den Kerl in der Brötchentüte, der sich still und heimlich hineindrängelte, nicht wahrgenommen hatten. So kam es, dass Gnorp nach Lybien hereingekommen war. Ehrfurchtsvoll stellte Gnorp fest, dass alle pilzförmigen Häuser an der Straße, die er zum Markt hinauf schritt, in derselben Farbe angemalt waren. Er war offensichtlich auf der roten Strasse und die Lybits, die hier einen festen Wohnsitz hatten, trugen hellblaue Wänste und rote Pluderhosen. Immer wenn ein Lybit in Pluderhose und Wanst einen anderen in Pluderhose und Wanst begegnete, machten sie sich gegenseitig tiefe Diener und wollten stets dem Anderen den Vortritt lassen und machten sich gegenseitig die absurdesten Komplimente. Nichts an ihnen war rüpelhaft oder degoutant geschweige denn peinlich. “Wohl“ war das Wort der Wahl in dieser Stadt: wohlgeraten, wohlerzogen, wohlauf, wohl bekomm's, wohlig und wohlan.

Während Gnorp tapfer über das Kopfsteinpflaster der roten Straße weiter Richtung Marktplatz ging, schwitzte er mehr und mehr und der Grund war nicht die schlechte Klimatisierung seiner Tarnkappe sondern vielmehr, dass er ununterbrochen daran dachte, dass er wie ein bunter Hund in grauer Masse wirkte. Zum Glück gab es noch andere, die nicht so einheitlich gekleidet waren und sich schüchtern oder devot den Wansttragenden andienten. Sie hatten wie es Gnorp schien noch nicht das Recht in einem der Häuser zu wohnen oder die typische Tracht zu tragen, aber sie machten es Gnorp leichter, die Stadt weiter zu erkunden.

Bald hatte Gnorp den großen Platz erreicht, sah den Pranger in der Mitte und an den zwölf Straßenmündungen besonders knubblige und erhabene Pilzgebäude mit Erker und Türmchen. Hier erkannte Gnorp, dass jede Straße nicht nur ihre Farbe hatte, sondern auch ihren Klang. Die Lybits hatten überall Kopfsteinpflaster verlegt, aber nicht nur das, sie hatten die Steine einer Straße nicht nur in gleicher Größe gelegt, sie hatten ihnen obendrein exakt denselben Schliff gegeben, aber jeder Straße einen unterschiedlichen. So konnte ein Lybit schon am Klang der Hufe erkennen, woher der Reiter oder das Gespann kam und in den jeweiligen Straßen klang alles gleich.

Gnorp entschied sich dafür die dunkelblaue Straße näher zu betrachten, denn unweit des Platzes, sah er ein Pilzhaus mit einem Ladenschild, dass seine Neugier entfacht hatte. Er watschelte behäbig knisternd unter seiner Tüte zum Haus, passierte Lybits, die hier alle gelbe Wänste trugen und sich selbstverständlich freundlichst um den Bart strichen. Fast hätte Gnorp gleich zu Beginn Lord Elf Gin umgerannt, der gerade aus der stattlichen Wohnstatt Kalterersees gekommen war. Gerade noch rechtzeitig gelang es Gnorp dem großen Schuhen Elf Gins auszuweichen und sich in Hörweite zu postieren. Elf Gin hatte er nicht gesehen, aber Kalterersee, der mit Elf Gin das Haus verlassen hatte. Kalterersee redete auf Elf Gin ein:

„Ihr müsst die Tore verschließen, Lord Gin! Nichts darf hinein, nichts hinaus, was unsere Augen nicht gesehen haben. Schlagt meine Warnung nicht in den Wind!“, Kalterersee redete ohne Unterlass auf Elf Gin ein und schien sich nicht zu bekümmern, dass ein jeder mithören konnte. Elf Gin drehte sich um und sein Gesicht war verborgen, denn die Krempe seines Hutes verbarg sein Antlitz. „Wenn wir die Tore schließen - ich fragte es Euch eben schon dreimal - werden wir wie lange von unseren Worten zehren können?“, antwortete Elf Gin mit einer Gegenfrage und kein Ton verriet wie angespannt er war.

„Solange wir wollen! Und das antwortete ich Euch mindestens ein Dutzend Mal. Wir brauchen nicht jeden windigen Wort Händler oder Verseschmied einzulassen, hinter dessen Gestalt sich nur allzu gern ein Troll mit Tarnkappe verbirgt. Diese Gestalten sollen uns Ross und Reiter nennen, sollen Farbe bekennen und ehrliche Preise machen. Kein Markt, kein Laden in Metrik braucht diese Händler aus Tausend und einer Nacht und ihre wortreich besungenen Waren, die sich nur allzu oft als billiges Geschmeide entpuppen, das keiner hören will. Keiner!“ Kalterersee hatte sich so in Rage geredet, dass er am ganzen Körper zitterte und sein Gesicht rot angelaufen war. Aber Elf Gin schwieg und antwortete nicht zugleich. Erst nach einer Weile, als der erhitzte Kalterersee ein wenig abgedampft war, antwortete er: „Wir schließen die Tore.“

Und kaum, dass er so gesprochen hatte, atmete Kalterersee mehrmals durch und eine große Last schien ihm von den Schultern genommen. „Wir schließen die Tore“, wiederholte Elf Gin und fuhr fort „aber nur, weil ich glaube, dass du mir die wahren Gründe verschweigst“. Kalterersee wurde blass, schluckte und hatte Mühe, erstaunt zu fragen: „Welche Gründe sollte ich dir verschweigen?“

„Du kennst – genau wie ich - die Warnungen des großen Keks und weißt, dass die Leibesfrucht eines Lybits und eines Trolls stark genug ist, Dämme aufzubrechen und ganze Städte einzureißen, und wie zufällig – nicht wahr? - liegt gerade dieses Vieh vor unseren Toren und mein allseits geschätzter Vizelord hat soviel Angst, dass er sich in seinen eigenen vier Wänden verbarrikadieren will. Nein, du verschweigst mir nichts, mein lieber Vizelord“, endete Elf Gin süffisant und fügte noch beiläufig hinzu: „Dem Löwen werde ich jetzt den Garaus machen und hoffentlich hat dann diese traurige Komödie ein Ende.“ So schloss Elf Gin und stapfte zu den Toren.

Kalterersee blieb noch eine Weile zitternd stehen und blickte dem Schlapphut seines Herrschers hinterher. „Nehmt einen Schluck, ihr seht blass aus“, sprach Kruzifix, der sich wie Gnorp abseits gehalten hatte und nun, aus dem Schatten hervortretend, seinem Herrn mit einem Schluck aus der Wasserflasche helfen wollte. Geradezu wirr schaute Kalterersee zu Kruzifix und hatte offensichtlich Mühe, seinen Knappen zu erkennen. Dann fuchtelte er plötzlich wie wild mit seinen Armen los, als ob er nicht wüsste, was er sonst tun oder wie er den Druck los werden sollte; heulte, aber sagte nichts; schlug um sich, aber nur in die Luft, als ob er nicht wüsste, wo er anfangen und wo er aufhören sollte, und schließlich rannte er von Kruzifix weg.

„Ertappt“, murmelte Kruzifix, der wie Gnorp das ganze Gespräch belauscht hatte. Kruzifix verstaute sein Fläschchen, schüttelte weiterhin seinen Kopf und als Gnorp, dem sein Herz bis zum Hals schlug, weil er sich selbst, so wie in diesem Ding vom Löwen, im Verhalten Kalterersees wiederzuerkennen glaubte. Gnorp hoffte, dass Kruzifix nun ebenfalls schnell von der Bildfläche verschwinden würde. Die anderen Lybits hatten sich nicht um den Disput von Gin und Kalterersee gekümmert. Weil sie wohlerzogen waren, hatten sie stets einen mehr als höflichen Abstand zu den Beiden gehalten und wenn überhaupt, dann nur diskret genickt.

Als Gnorp durchatmen und das Gehörte verarbeiten wollte, spürte er plötzlich den Blick des Kruzifix auf sich und ihm war, als ob ein Eiswürfel an seinem Rücken hinunter rann. Ihm trat der Schweiß aus jeder Pore und am Liebsten hätte er sich die Tüte vom Kopf gerissen und seinem Häscher die Zunge herausgestreckt, aber er wusste, dass sein Weg dann sogleich beendet gewesen wäre und er wollte doch noch in den Laden in der blauen Straße und zu seinem Vater. Also hielt er Kruzifix kaltem und emotionslosem Blick stand, bis der endlich wo anders hin blickte und seiner Wege ging. Gnorp war erleichtert, als der Knappe sich abgedreht hatte, denn er hörte nicht, was der Knappe murmelte, und sah nicht, ob der Knappe höhnisch grinste oder ob nicht.

„Kalterersee“, dachte Gnorp wiederholt und musste jedes Mal aufs Neue schlucken, auch wenn er den Namen nur in Gedanken aussprach. Als Kalterersee nach dem Gespräch mit Gin auf seine Weise Reißaus genommen hatte, fühlte sich Gnorp, als steckte eine Hand in ihm und würde ihn bewegen; als sei er nicht Wurzel, sondern Glied; als sei er nicht Ast, sondern Blatt.

Kein Lybit in den Mauern von Lybien hätte auch nur den Hauch einer Ähnlichkeit zwischen Gnorp und Kalterersee festgestellt, geschweige denn, den Troll mit irgendeinem anderen Lybit verwechselt. Und doch fühlte sich Gnorp, seit er gesehen hatte, wie Kalterersee sich verhielt, als Elf Gin ihm reinen Wein eingoss, dem Vizelord zum Verwechseln ähnlich. Paradoxerweise getraute es sich Gnorp trotzdem nicht, die Brötchentüte vom Kopf zu reißen und der Scharade ein Ende zu machen. Derart aufgewühlt watschelte er die blaue Straße hinunter und als er schon – nicht links, noch rechts guckend - an der Ladentür vorbeigegangen war, die vorhin noch seine Aufmerksamkeit erregt hatte, strich ein leichter Wind durch seine Tüte, ließ sie knistern. Hinter ihm hörte er, wie ein Windspiel andere, zufälligere Töne spielte, als das stete Einerlei des stumpfen Klopfens wohlgeratener Hufe auf zu Gleichklang geschliffenem Klopfsteinpflaster erwarten lassen konnte. Gnorp hielt inne, drehte sich um und sah den Laden.

„Van Soli“, stand schmucklos auf der eichenen Eingangstür, die Gnorp nun schüchtern, aber entschlossen aufdrückte. Die Tür war schwer und Gnorp musste sich anstrengen, sie weit genug aufzudrücken, um nicht selbst zerdrückt zu werden, nachdem er sie wieder losgelassen hatte, bevor er ins Innere des Ladens schlüpfte.
Die Tür schloss sich mit einem satten und klackenden Geräusch und Gnorp fand sich wieder in einem Laden, der ihn an die Höhle von Bulbus, seines ehemaligen Vaters, erinnerte. Es war nicht so dunkel in ihr, denn zahlreiche Kerzen erhellten den Raum. Viele Bücher lagen wahllos wie Geschwätz umher und offenbarten erst beim zweiten Blick, dass ein jedes so lag, wie es musste.

Ein Husten schreckte Gnorp auf. Aus den hinteren Räumen schlurfte ein älterer Lybit zu ihm her. „Ah, ein Troll!“, krächzte der Alte, ohne daran Anstoß zu nehmen. Stattdessen stieg er, als hätte Gnorp ihn darum gebeten, gleich auf eine Bibliotheksleiter und suchte mit einem Monokel im Auge und einem Finger auf den Buchrücken gezielt eine Reihe ab, murmelte hier etwas mehr oder verharrte mit dem Finger dort etwas länger, bis er kurz entschlossen ein Buch herauszog, den Staub hustend abpustete, es aufschlug und konzentriert darin blätterte.

Der kleine Troll stutzte zwar, fühlte sich aber fast heimisch in diesem Laden und blätterte selbst in dem einen oder anderen Folianten. Schnell verloren sich seine Gedanken in den Zeilen, die er aufs Geratewohl las. Er verstand, dass sich in diesem Dämmerlicht die Welt, die in diesen Worten und Versen schlummerte, besser entfalten und der Leser seine eigene vergessen konnte. Der alte Mann schien auch nur Bücher zu sammeln, die Welten enthielten.

„Die Poesie erschafft Welten. Wissenschaft kann nur erkunden, was die Dichter erschufen“, zitierte der Alte in diesem Moment eine Stelle, sah zu Gnorp und meinte eher, als er fragte: „Das gefällt dir, nicht wahr?“, weshalb er auch die Antwort nicht abwartete, sondern fortfuhr: „Aber da war doch noch ein anderes ...“, und das Buch wieder einrückte und prompt seinen knochigen Finger ausstreckte und suchend über eine andere Reihe fuhr.

Gnorp stolperte indessen über ein paar Zeilen:

„Ganz klein sah ich ihn liegen,
in einer jener Wiegen,
wie sie in allen Häusern stehen -
doch diese war tiefschwarz.“

Gnorp sah, wie sich das Haus, der Flur, die Türen und die Wiege im Kerzenlicht des Ladens von Van Soli manifestierten und er sah sehr wohl, dass die Wiege und nicht der Inhalt schwarz gemalt worden war, doch träumte er sich kurzerhand hinein und fand sich selbst von diesen Zeilen mehr verstanden, als von allen Trollen oder Lybits, denen er je begegnet war. Mag auch ein Gelehrter einwenden, dass Gnorp die Zeilen gründlich missverstanden hatte, berührt hatten sie ihn allemal und das war es, was nach allen Abrechnungen zählte.

Der Alte räusperte sich und zitierte: „Monologe verhalten sich wie Monokulturen: zweidimensional, einerlei und widerspruchslos. Lebensraum entsteht nur dort, wo Dialog und Widerspruch gepflegt werden.“ Das gesagt, schlug er den Folianten betont zusammen und schob ihn wieder zurück. Dann kletterte er von seiner Leiter hinunter und grummelte: „Wie sag ich immer? Misch alle Farben zusammen und am Ende ist alles Grau.“

„Wie kommt es, dass sie in Metrik wie ein Troll leben können?“, fragte Gnorp spontan, denn er hatte das Gefühl, dass er bei Van Soli auf Verständnis bauen durfte. Van Soli hob erstaunt eine Braue, lachte bronchial, musste sich setzen, nahm sein Monokel ab und fing sogleich an, diesen zu putzen ohne jedoch mit dem Gelächter aufzuhören. „Mein lieber Troll! Mein lieber, kleiner Troll, der Troll bist du, nicht ich. Und das hier ist bestimmt keine Trollhöhle“, antwortete van Soli kichernd. „Aber sie lieben doch Bücher, Texte, jedes einzelne Wort!“, echauffierte sich Gnorp: „Dieser ganze Laden will von vorne bis hinten durchgelesen und erlebt werden. Eben noch sah ich eine andere Welt,“ und Gnorp deutete abwechselnd auf zwei Kerzenlichter, „die einfach zwischen diesen Lichtern entstand, nur weil ich ein paar Worte gelesen hatte. Sie selbst rieten mir zu Widerspruch und wachem Geist, um nicht zu ersticken und jetzt, jetzt, sagen Sie mir, ich sei der Troll! Und wer sind Sie?“

„Mein lieber Troll! Mein lieber, kleiner Troll, der Troll bist du, nicht ich. Und das hier ist bestimmt keine Trollhöhle“, antwortete der nach Luft schnappende van Soli. Gnorp stutzte. Hatte van Soli nicht haargenau diesen Spruch eben schon feilgeboten? Allen Mut zusammennehmend, ging Gnorp zu Van Soli, der nach wie vor auf seinem Stuhl saß und sein Monokel reinigte, als gäbe es kein Morgen. Es floss immer noch genügend Trollblut in Gnorp, so dass er nicht lange überlegte, welche drastischen Mittel angewandt werden mussten, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ein Troll für mehr als recht und billig hielt. Also raffte er seine Brottüte, um dem geschätzten van Soli vor die Füße zu strullen. Van Soli schien das jedoch nicht zu bemerken und hob erneut an: „Mein lieber Troll! Mein lieber, kleiner Troll, der Troll bist du, nicht ich. Und das hier ist bestimmt keine Trollhöhle.“

„Mein lieber, alter, seniler Sack! Du wirst gleich wissen, wie ich mich fühle“, bellte Gnorp zurück und wollte gerade Wasser lassen, als er im Halbdunkel dieses Ladens entdeckte, dass ein Schlüssel im Rücken des Alten steckte und sich langsam drehte. War Van Soli etwa eine Puppe? Gnorp verstand gar nichts mehr und er bekam auch nicht mit, wie sich die Ladentür öffnete und mit schweren Stiefeln ein weiterer Lybit eintrat. „Willst Du einem alten Herrn vor die Füße pinkeln?“ Gnorp schreckte zusammen, als er die schneidend kalte Stimme Kruzifix’ vernommen hatte und im gleichen Moment entleerte sich seine Blase.

„Troll!“, fluchte Kruzifix und packte Gnorp, der starr vor Schreck weiterhin pieselte, am langen Arm am Schlafittchen. „Mein lieber Troll! Mein lieber, kleiner Troll, der Troll bist du, nicht ich. Und das ist ...“, sagte Van Soli noch einmal und blieb dann im Satz und in seinen Bewegungen hängen. Dieser nette, alte, lungenkranke Mann war tatsächlich ein Automat, dessen Feder nun neu aufgezogen werden musste.

Während Gnorp noch darüber grübelte, was das bedeutete, stieß Kruzifix mit seinem anderen Arm die Ladentür auf, pfiff scharf zwischen seinen Zähnen hindurch, und unmittelbar danach waren zwei, drei Lybits im Laden, die den abgelaufenen van Soli wieder aufzogen, auf Position stellten, einen Klingeldraht zwischen Automat und Tür spannten und natürlich Gnorps Pfützen aufwischten. Das alles geschah routiniert und behände. Gnorp sah in Kruzifix’ Gesicht und der lächelte überlegen zurück: „Mach dir nichts draus, Kleiner. Noch jeder Troll ist in diese Falle gelatscht.“ Kalterersees Knappe hatte einen derart arroganten Unterton, dass es Gnorp aus seiner Erstarrung riss.

„Tolle Falle! Ihr deckt einen Tisch mit den leckersten Spezereien, dann lasst ihr den Gast so lange von einem Automaten beleidigen, bis der sich richtig angepisst fühlt und sich beschwert. Dann kommt ihr und ruft: ‚Seht wir haben einen Troll gefangen!’ Das ist doch ein ganz fauler Trick!“, beschwerte sich Gnorp und seine Worte überschlugen sich fast, so sauer war er, weil er die Funktionsweise der Trollfalle in die er da getappt war, für schamlos und bigott hielt. Kruzifix sagte einen Moment lang nichts, dann lachte er schallend los. „Aber, aber, lieber Troll, vergisst du nicht etwas?“, fragte Kruzifix, immer noch lachend, den wütenden Gnorp. „Mit Sicherheit nicht, Herr Hundefänger!“, und Gnorp betonte seine Worte, als rotzte er sie Kruzifix ins Gesicht und der blinzelte, als hätte er Mühe, den Troll nicht sofort in tausend Teile zu zerschneiden. Aber Kruzifix beherrschte sich.

„Mit Sicherheit doch, du Troll“, antwortete er schließlich mit bebender Stimme. „Mit Sicherheit ist das hier kein Abort und mit Sicherheit geht die Tür in beide Richtungen auf. Du hast die Entscheidung getroffen, die nur ein Troll wählt.“
„Ich bin aber ein Lybit“, entgegnete Gnorp so kühl, als ließe ihn die Erregung und der Zorn seines Häschers kalt. Dabei drehte er wie beiläufig seine Hände vor seinem Gesicht und spreizte seine drei Finger so, dass sie Kruzifix gut sichtbar waren.
„Wenn ich noch Zweifel hatte …“, begann Kruzifix, schwieg, schüttelte leicht den Kopf und vollendete: „so hast du sie mir soeben genommen.“ Sprach’s und marschierte aus der Trollfalle, den Troll immer noch am Genick gepackt.
Gnorp erkannte langsam den Ernst der Lage, erkannte, dass sein Weg nur noch zum Pranger führen würde und daher brüllte er, so laut er konnte: „Ich will zu meinem Vater!“

„Du kommst zu Deinem Schöpfer. Das kann kein schlechter Tausch sein“, nuschelte Kruzifix als Antwort so nebenher, dass Gnorp ahnte, dass er nicht der Erste war, der nach Vater oder Mutter gebrüllt hatte.
„Ich aber bin der Sohn deines Herren, du Spaten!“, rief Gnorp und es gelang ihm erstaunlich souverän zu wirken. Der Knappe blieb stehen, hielt Gnorp hoch, drehte und inspizierte ihn, lächelte und schnitt dabei mit einem kurzen Dolch, den er auf einmal in der anderen Hand hielt, die Brötchentüte - ritschratsch - in kleine Stücke.
„Ein hübsches Kind“, flüsterte Kruzifix maliziös und ließ sich nicht davon irritieren, dass alle Lybits ängstlich, angewidert und mit Taschentüchern vor dem Mund, in immer größer werdenden Abständen an ihnen vorbeiflüchteten, als hätten sie erst jetzt erkannt, welcher Art das Brot in der Tüte war, bis Gnorp schließlich schwarz und nackt an seinem Arm hing. „Da wird sich Papa aber freuen, so einen strammen Stammhalter eingesät zu haben. Ja, Du hast recht kleiner Troll, das müssen wir Papi selbst erzählen“, grinste der Knappe breit und spielte den Überraschten, als er unmittelbar und nicht unweit seiner eigenen Position Kalterersee entdeckte: „Oh, welch göttliche Fügung mein stinkiger Troll, dein Väterchen ist nahe.“

Gnorps Kehle schnürte sich zusammen, denn Kruzifix hatte nicht gelogen. Kalterersee stand, anscheinend wieder Herr seiner Gefühle, den Rücken ihnen zugewandt, nicht weit entfernt, lässig vor einem kleinen Fischversbasar und redete mit großer Geste auf zwei lybische Damen ein, die ganz versonnen an seinen Lippen zu hingen schienen. Erst als sich Kruzifix mit dem Troll so weit genähert hatte, dass die Damen die Beiden nicht mehr übersehen konnten und demzufolge ihr Lächeln aus dem Gesicht verloren, ihre Nase rümpften und alle Anzeichen von Abscheu an den Tag legten, begriff Kalterersee, dass nicht etwa er gemeint, sondern der Feind von hinten gekommen war. Er drehte sich mit großer Geste um und hatte schon einen passenden Spruch auf den Lippen, als er jäh durch das Antlitz seines Knappen ausgebremst wurde. Den hatte er in diesem Augenblick nicht erwartet und daher suchte er mit halb geöffnetem Mund nach Worten.
„Verzeiht Herr, aber ich dachte, es würde Euch interessieren, Euren Sohn kennen zulernen“, sagte der Knappe, sein Haupt tief verneigend und Gnorp umso mehr in die Höhe haltend. Kalterersee verstand nicht. Er schaute auf Kruzifix, irritierter auf Gnorp, dann wieder auf seinen Knappen, bis er hervor stieß: “Was soll der Mist, Kruzifix?“ Der Angesprochene hob nur ganz leicht seinen Kopf und antwortete: „Dieser hier behauptet, Euer Sohn zu sein und Ihr müsst zugeben, dass alle Trolle Euch verachten und noch keiner Euer Sohn sein wollte. Nur deshalb zeige ich ihn Euch.“

Kalterersee drehte sich vor und zurück, denn die soeben bezirzten Versfischverkäuferinnen begannen ängstlich, ihren Stand dichtzumachen und sein Knappe hatte ihm gerade unterbereitet, Vater eines Trolls geworden zu sein.
„Packt Euch! Packt Euch, verdammt noch einmal“, rief Kalterersee schließlich wütend aus. „Was soll der Blödsinn, Kruzifix? Sieh, was Du getan hast? Du hast Möschen und Nutella mit diesem Troll erschreckt. Sieh dr den Stinker doch an! Selbst du könntest nicht sein Vater sein, also pack Dich fort mit ihm, führ diesen widerlichen, schwarzen Knubbel zum Schafott!“

„Ich bin Dein Sohn, Du Sack!“, reagierte Gnorp spontan und wollte noch mehr sagen, aber da lag Kruzifix Hand schon auf seinem Mund. Der Knappe entschuldigte sich untertänig, um sich dann eilig, unter zahlreichen Bücklingen, aus dem Dunstkreis seines Herren zu entfernen, welcher sich bereits wieder, lässig sein Haar aufschüttelnd, dem Damenstand zugewandt hatte und - ganz blauer Tauberich – auch schon wieder gurrte: „Aye, meine Schönen.“

Als sein Vater ihn zugunsten fischiger Wachteln derart verschmäht hatte, wusste Gnorp, dass er auf dem Pranger enden würde. Er begriff, auch wenn er es als herzzerreißend ungerecht empfand, dass er der Troll war und in Kürze wie ein Schmutzfleck aus der sauberen Welt Lybiens entfernt werden würde. Die größte Angst bereitete ihm aber, dass er keine Gewähr hatte, in einer anderen Welt wieder aufzutauchen und je wieder Gnorp zu sein, sondern für immer zu verschwinden; zu einem Nichts zu zerplatzen, so wie der junge Troll einst auf dem Marktplatz von Metrik.

„Damit wir uns nicht falsch verstehen, Troll“, schärfte Kruzifix Gnorp ein, kaum dass sie außer Sicht- und Hörweite von Kalterersee waren, „den Mund habe ich dir nicht zugehalten, um dich vor deiner Zunge beschützen wollte, sondern weil ich selbst dich zu deinem Trollgott bringen will.“ Kaum dass der Knappe so gesprochen hatte, konnte sich Gnorp aus seinem Tal der Tränen wieder herauskämpfen und antwortete mit fester Stimme: „Ich Dich auch, kleiner Knappe, ich Dich auch.“

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter Wal (15.06.10)
"Jetzt, angesichts eines hysterischen Lybit-Mobs, fiel Gnorp das Lächeln wesentlich schwerer, als angesichts"

Hier stieg ich aus angesichts der Wortwiederholung von "angesichts".

Dürfte anderen ähnlich gehen.
Misanthrop (31) meinte dazu am 15.06.10:
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 Dieter Wal antwortete darauf am 16.06.10:
@Misa: Finde eher deine Wahrnehmung armselig. Du gehst halt von dir aus. Aber sehr nett, dass du Lala meinst verteidigen zu müssen.

Der Kommentar sollte einfach auf den Effekt hinweisen, den manche sprachliche Elemente haben. Die Leser steigen ihm aus. Will er sicher nicht. Also könnte er's ändern. Er kann es auch lassen. Kommentare sind keine Gebrauchsanweisung für Leser, sondern Hinweise für die Autoren. Mehr nicht.

 Lala schrieb daraufhin am 16.06.10:
Hallo Araki,

zwar sind Deine Worte etwas dürr und sie lassen mich auch nicht gerade jubilieren, aber trotzdem kann ich ein paar Eindrücke gewinnen.

Immerhin bist Du bis an diese Stelle gekommen - das ist ein kleines Kompliment für lange Texte im Internet. D.h. der Einsteiger und das Tempo am Anfang kann nicht vollkommen falsch gewesen sein - oder aber Du bist ein seeehr geduldiger Leser und nur sehr langsam genervt.
Der Text lag vor der Veröffentlich aber etwas und ich habe ihn mir vorgestern noch mal durchgelesen, stolperte auch an der von Dir angezeigten Stelle, las aber weiter und stellte fest, dass der Text nach hinten raus deutlich zäher wird. Ich finde ihn immer noch amüsant, aber seine Stärken liege im ersten Teil. Der wirkt auf mich kompakter und hat besseren Witz und höheres Tempo. Besser und höher müsen nicht zwangsläufig gut sein. Ich stelle für mich fest, dass auch knappe, kritische, ja von anderen (s. Misanthrop) als destruktiv eingeschätzte Aussagen wertvoller sind, als Schnuffi hat Dich lieb.

Danke.

Gruß
Lala

 Lala äußerte darauf am 16.06.10:
@Arakizum Zweiten: Das hat sich wohl gerade etwas überschnitten. Aber so ähnlich sehe ich das auch.

 Dieter Wal ergänzte dazu am 16.06.10:
Vermutlich liest du deine Texte öfter vor. Nicht immer (Um es vorsichtig auszudrücken) ist das Publikum bereit, jede Textstelle mit konstruktiven Kommentaren zu bedenken..., aber dabei spürt der Autor, wenn er Stimmungen im Raum wahrnimmt, wenigstens, wie viel oder zu wenig rüberkam. Deine textliche (Selbst-)Einschätzung kann richtig sein, aber hat nur selten etwas mit der von Zuhörern/Lesern zu tun.

Las übrigens leider nicht bis zu diesem Untertext, sondern ging aufgrund( der mich ansprechenden Überschrift in diesen Text, dich als Autor etwas kennenzulernen. Wie geschrieben stieg ich schon beim ersten Satz aus. Das wäre für Journalisten etc. eine "Todsünde", da Leser auf gar keinen Fall aussteigen und erst recht nicht bereits beim Einstiegssatz aussteigen sollten!

Was machst du eigentlich beruflich?
(Antwort korrigiert am 16.06.2010)

 Lala meinte dazu am 16.06.10:
Hallo Araki

Danke für die Rückmeldung. Nur das konnte ich Deinem Komm ja nicht entnehmen und das Du mittendrin anfängst. Da hat der Komm dann Interporetationslücken.
Und ja hin und wieder lese ich mir auch meine Texte laut vor mit dem Ergebnis, dass ich Sie ändere. Meistens. Aber ich werde die Todsünde noch ändern. Versprochen.

Gruß

Lala
Misanthrop (31) meinte dazu am 16.06.10:
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