I.
 Inhalt 
III. 

II.

Geschichte zum Thema Trauer/Traurigkeit

von  Lala

Als ich an jenem Morgen meine Augen geöffnet hatte, lag ich nicht nur da, wie eines dieser Plastikmännchen aus Zirndorf, ich war zu einem geworden. Natürlich war mir das nicht sofort bewusst, weil ich keine Spiegel in meinem Schlafzimmer aufzuhängen pflege und sofort in Augenschein hätte nehmen können, was mit mir geschehen war.

Im ersten Moment, als mir bewusst wurde, dass etwas Merkwürdiges, ja Schreckliches geschehen sei, befürchtete ich, dass ich über Nacht eine Querschnittslähmung erlitten hätte. Besonders verstörend war die Tatsache, dass ich weder meinen Kopf noch meine Augen bewegen konnte. Weder nach oben oder unten, weder nach links noch nach rechts. Nur stur geradeaus. Verzweifelt versuchte ich zur Seite zu schauen, aber es gelang mir nicht.

Ich sah die Welt durch ein Fernglas, das ich nicht selber hielt, geschweige denn schwenken konnte.

Sogleich hatte ich dieses schreckliche Bild aus dem Film Clockwork Orange im Sinn: Der Protagonist ist mit allen Gliedmaßen auf einem Stuhl festgeschnallt, auch sein Kopf ist fixiert und selbst die Augenlider zu schließen ist ihm unmöglich. Eine widerliche Apparatur zieht seine Llider auseinander und träufelt eine Flüssigkeit auf seine hervorgetretenen Augäpfel. Der Apparat verhindert, dass er wegschauen kann. Er zwingt ihn zur Teilhabe. Ein Bild voller Brutalität. Es verblasste aber schnell, weil ich keinen Schmerz empfand, so sehr ich mich auch anstrengte. An sich empfand ich nichts. Null. Niente. Das Einzige, was ich spürte war, dass ich im Bett lag. Das Einzige, was ich sah, war  meine Schlafzimmerdecke. Die Decke war weiß. Sie müsste mal wieder gestrichen werden. An sich müsste ich neu tapezieren ...

Als der Wecker endlich klingelte und Karen, hochschwanger, wach geworden war, gab sie mir gedankenverloren einen Kuss, murmelte wie immer:
"Du hast ja noch zehn Minuten, aber denk an den Kaffee und mein Brötchen", stemmte sich aus dem Bett und tapste ins Bad.

Sie hatte nichts gemerkt. Das war der Moment, in dem ich panisch geworden bin und dank meiner Panikattacke feststellte, dass ich nicht völlig steif bin. Denn als Karen das Schlafzimmer verlassen hatte, befürchtete ich, dass ich eigentlich tot sei, dabei war zu sterben oder dass dies meine letzte Sekunde auf Erden wegen eines Aneurysmas war.
Ich dachte, dass meine Seele in einem toten Körper eingesperrt sei, der äußerlich aber normal wirkte. Ich versuchte wie zur Antwort meinen Kopf zu schütteln, was aber wieder nicht gelang. Dann wollte ich mit den Armen rudern, was auch misslang. Aber ich spürte eine Bewegung, einen Ruck und endlich gelang es mir, meine Arme zu bewegen.
Zwar verwurschtelte ich mich, durch meine wie wild hoch und runter fahrenden steifen Arme in meiner Bettdecke, aber wenigstens erlebte ich eine rudimentäre Reaktion der Außenwelt auf meine Aktionen - nachdem die Zimmerdecke alle meine Gesprächsangebote konsequent verweigert hatte. Ja, es gelang mir sogar, meine Beine mittels des Hüftgelenks rechtwinklig in die Höhe zu strecken. Wow! Meine Füße konnte ich zwar nicht sehen und meine Bettdecke begrub mich bei dieser Aktion vollständig, aber das war mir egal. Denn nunmehr hatte ich die Hoffnung, dass ich den merkwürdigsten Anfall temporärer Steifigkeit oder Hexenschuss abbekommen hätte, ein Leiden also, welches sich mit einer Spritzenkur oder ein paar Tabletten, die jeder halbwegs begabte Quacksalber im Arsenal haben müsste, würde beheben können.

Während ich geistig unter der Bettdecke durchschnaufte, hörte ich wie die Schlafzimmertür aufging und meine Frau wieder hereinstapfte:
„Sag mal, hast Du mich vergessen? Wieso ist der Kaffee noch nicht fertig?“, polterte sie los. Dann stockte sie. Wahrscheinlich fragte sie sich, welches Spiel ich unter meiner Decke trieb und warum ich beide Beine senkrecht in die Luft stemmte.
„Was machst Du da? Ich finde das nicht witzig.“

Wie recht Du hast Schatz, aber sei so gut, zieh mir endlich die Decke vom Kopf und hilf mir.

„Weißt Du, ich finde Deine Spielerchen doof. Saudoof. Mach doch, was Du willst!“, sagte sie stattdessen, knallte die Tür zu und zog wütend wieder ins Bad oder in die Küche - konnte ich ja nicht sehen. Während ihrer Schwangerschaft war sie aggressiver geworden. Es ging noch zwei, drei mal so, wenn sie ins Schlafzimmer kam. Jedes Mal sagte sie eine Bemerkung wie: „Du hast eine Vollmeise. Eine richtige Vollmeise“ oder „Glaub nicht, dass ich das Spielchen mitspiele. Du wirst schon sehen was Du davon hast.“, bis sie ohne ein weiteres Wort zu verlieren die Wohnung verlassen hatte. Rrrums!

Warum ich die Decke nicht abgestrampelt, warum ich nicht mit den Armen gerudert, warum ich nichts von dem getan habe, seit die Bettdecke auf mir lag? Ich weiß es nicht. Nur eines weiß ich, dass ich die relative Dunkelheit unter der Bettdecke der Grell-, Starr- und Weißheit meiner Zimmerdecke vorgezogen hatte. Ich fand unter der Bettdecke Geborgenheit und begann diese Lage zu bevorzugen, weil ich mich, so verborgen, nicht mehr vor der Welt und der weiß gestrichenen Zimmerdecke ausgesetzt oder präsentiert fühlte. Ich meinte zu verstehen, warum ein Baby schreit, wenn es auf die Welt gekommen ist.

Hinzu kam, dass sich mein Zeitgefühl veränderte. Wenn ich heute im Dunklen sitze oder das Gefühl für meine Umwelt verliere, was relativ schnell passiert, dann rast die Zeit dahin.
Diese Veränderung registrierte ich sehr bald. Schon am ersten Tag, als Karen hinter sich die Tür mit Schmackes zugezogen und gegangen war, erschien sie schon nach einer gefühlten Stunde geradezu plötzlich wieder in der Wohnung. Die Abläufe beschleunigten sich zum Teil derart, dass ich von heut auf morgen vom Sommer in den Winter fiel. Die für die Tag- und Nachtabläufe typischen Geräusche nahm ich nur noch wie im Zeitraffer wahr. Wenn ich die Außenwelt nicht wahrnehme oder sie nur als Schattierung eines Grautons empfinde, durchmesse ich die Zeit mit Lichtgeschwindigkeit. Eine Lebensgeschwindigkeit, die nur vergleichbar ist mit dem Zeitsprung, den ich, als ich noch Mensch war, zwischen Einschlafen und Aufwachen erlebt habe. Im Schlaf raste ich durch die Zeit und wehe, wehe, mich weckte jemand lange vor dem Klingelzeichen des Weckers, dann sah ich aus, als hätte ich eine Vollbremsung hinter mir oder sei gegen einen Baum gerast.

Unter meiner Bettdecke, an jenem ersten Morgen, als Mann aus Zirndorf, litt ich keine Nöte: Kein Hunger, kein Schmerz, keine Flatulenzen, keine schlechte Luft, kein Gefühl von Bettlägrigkeit; nicht mal ein eingeschlafener Fuß machte sich bemerkbar. Ich schwebte, ich flog! Ein unbeschreibliches Gefühl.

Natürlich war mir die Situation fremd und unnatürlich zugleich. Gleichzeitig verspürte ich aber mehr und mehr das Gefühl absoluter Sicherheit und kontemplativen Vertrauens in mein Sein. So blieb ich liegen und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Stunden verronnen waren und meine Frau wieder von der Arbeit gekommen, ihre Garderobe abgelegt und ins Schlafzimmer gekommen war.

Ich spürte, wie sie mit sich rang, ob sie fluchen, heulen, keifen oder Sorge zeigen sollte, dann riss sie, wortlos aber zornig, die Bettdecke weg unter der ich noch immer verborgen lag.
Hallo, Schatz, dachte ich.
„Ach, Du grüne Scheiße“, murmelte sie und hatte Mühe, nicht in Ohnmacht zu fallen.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (27.06.10)
Es bleibt spannend. Was für eine unglaublich skurrile Geschichte!

Liebe Grüße,

Sabine
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