…und Realität

Satire zum Thema Arbeit und Beruf

von  JoBo72

Fast private viewing: Akademiker gucken Fußball

Gemeinsam Fußball (oder „Deutschland“) schauen, ist mittlerweile zum Habitus der Alltagskultur geworden, so wie man früher in Gemeinschaft die Felder bestellte, das Dorf gegen wilde Tiere verteidigte und auf die Jagd ging, um mit Hilfe wilder Tiere was zum Essen zu fangen, das dann gemeinschaftlich am offenen Feuer zubereitet wurde. Heute also: Fußball. Public Viewing ist ein Stück Neolithikum in der Postmoderne. Das offene Feuer ist mittlerweile ein Holzkohlegrill. Der Rest ist unverändert.

Allein gucken ist doof. Schon Franz Beckenbauer sang einst „Gute Freunde kann niemand usw.“ Deshalb verstand es sich von selbst, dass wir unsere Freunde für das Achtelfinale gegen England zu einem kleinen Private-Public Viewing luden. Denn: Was gibt es schöneres als ein Fußballspiel mit Freunden? Mal abgesehen von einem Fußballspiel ohne Freunde.

Da einige unserer Freunde dem Lager der akademischen Arbeits- oder Arbeitslosenwelt zuzurechnen sind, birgt das für das gemeinsame Schauen eines Fußballspiels gewisse Gefahren. Mit ihrem wenige Stunden zuvor aus dem Sportteil der FAZ gesaugten Halbwissen, das eingepasst wurde, wo hinein alles eingepasst wird: in die allzu sehr akzentuierte Geisteswelt des Promovierenden-Daseins (unhöfliche Menschen würden von „Fachidioten“ sprechen), kann ein einziger Akademiker-Freund mehr nerven als 30.000 Vuvuzelas aus Lautsprechern im Dolby Surround-Modus.

Da ist zum Beispiel Malte. Malte ist Ethnologe und beschäftigt sich mit Migration. Die deutsche Fußballnationalmannschaft liefert ihm eine Messi-mäßige Vorlage zur Erläuterung der transnationalen Wanderungsbewegungen der Gegenwart. Von Linguisten-Freundin Sarah erfahre ich beiläufig, dass es im Sanskrit eine Nebenform von „qu’edira“ gibt, was „Rohrzange“ bedeuten kann oder auch – mit Betonung auf dem „i“ – „Die folgende Ecke brachte nichts ein.“

Am meisten jedoch nerven unsere Altphilologen, die ständig auf die griechisch-lateinischen Wurzeln einschlägiger Fußballbegriffe anspielen. „Der hat bei Borussia Dor…“ – „Borussia ist der lateinische Name von Preußen, der sich von boreus, also: ,nördlich’, ,im Norden gelegen’ ableitet.“ – „Jedenfalls hat er schon Champions-League gespielt und…“ –„Campio: ,Kämpfer’, ligamen: ,Verband’. Ich kenn mich aus, oder?!“ – „Ja. Im DFB-Pokal hingegen…“ – Von poculum: ,Becher’, ,Trinkgefäß’.“ – „Du kriegst gleich Stadionverbot!“ – „Ein Stadion war in der Antike ein Längenmaß. Wusstest du das? In Olympia betrug es umgerechnet 192,28 m, in Delphi nur 177,35 m und in Athen 184,30 m. Das hing damit zusammen, dass die einzelnen Stadtstaaten…“ Zumeist sind sie erst ruhig, wenn sie erfahren, dass heutzutage ohne „Libero“ gespielt wird.

Den Altphilologen dicht auf den Fersen: Stochastiker, die aus den Daten der ersten Halbzeit die Ereigniswahrscheinlichkeiten der zweiten errechnen, Germanisten, die erklären, dass „Eigentor“ eigentlich „Selbsttor“ heißen müsste („Heißt ja auch Selbstmord. Nicht Eigenmord.“) und natürlich Juristen, die aus ihrer Froschperspektive die Fouls („Das war streng genommen Körperverletzung. In Tateinheit mit Nötigung.“) und Schwalben („Vortäuschung einer strafbaren Handlung“ oder so ähnlich) kommentieren, während Mediziner ungefragt erklären, warum man Wadenkrämpfe bekommt, wenn man zwei Stunden lang rennt. Irgendwas mit Magnesium. Den Rest hab ich vergessen.

Als ich mit meinen Nerven fast und dem Bier im Kühlschrank ganz am Ende war, klingelt es. Jenny und Steffen. Sie ist Parfümeriefachverkäuferin und findet „Schweini irgendwie unsüß“. Er ist Maurer und bringt Bier mit. Es wurde doch noch ein vergnüglicher Abend.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (11.08.19)
Herrlich!

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 28.02.24 um 13:28:
Immer noch herrlich!
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