Allein in Alella

Satire zum Thema Entfremdung

von  JoBo72

Einsamkeit erfährt man in der Wüste. Oder im Land des nächsten WM-Gegners.

Ich lebe gerne in Spanien. Spanien ist ein wunderbares Land. Die Sonne scheint, das Meer glitzert, überall junge Damen mit Blumen im tiefschwarzen Haar und der Preis für Orangen sinkt bisweilen ins Lächerliche. Der für Rotwein liegt noch darunter. Spanien ist wie der Garten Eden, wie ein Schlaraffenland der 1000 Wonnen, wie der Himmel auf Erden, wie ein bezahltes Praktikum für Absolventen geisteswissenschaftlicher Studiengänge. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Ich lebe gerne in Spanien.

Meine neue Heimat Alella ist ein malerisches 9000-Seelen-Dorf umgeben von saftig-grünen Hügelketten, auf denen ein berühmter Weißwein reift. Es grenzt im unteren Teil an die schönsten Mittelmeerstrände, die man sich nur denken kann. Gerne schlendere ich durch die sehenswerten Gässchen, in denen Shopping Spaß macht, oder über die sanierte Uferpromenade mit der reichhaltigen Auswahl an preiswerten Speiselokalen und denke über den Text für die Werbebroschüre nach, mit der mich die örtliche Vermarktungsgesellschaft beauftragt hat.

Heute morgen kitzelt mich die Sonne aus dem Schlafgemach und lacht mich fröhlich an, als ich den Balkon betrete. Oder brennt sie schon ein wenig? Ich bin mir nicht sicher. Der Nachbar wässert die Blumen, deren üppige Farbenpracht den Hof verschönert. Ich grüße. Er dreht das Wasser ab, rollt den Schlauch ein und verschwindet wortlos. Seine Tochter spuckt vom Nachbarbalkon zielsicher hinüber, steckt sich eine Blume ins schwarze Haar und geht ins Haus. Hm. Naja. Was soll’s! Ich ziehe mich auch zurück, denn die Sonne brennt unerträglich.

Ein Blick in den Kalender zeigt ein abwechslungsreiches Tagesprogramm, an dessen Ende in roten Lettern „Halbfinale!“ vermerkt ist. Ja, heute ist es soweit: Halbfinale! Deutschland gegen... Moment! Sollte vielleicht...? „Aber doch nicht die Sonne auch?!“ – Ich lache still in mich hinein ob meines Gedankens und mache mich auf den Weg in die Stadt.

Unterwegs grüße ich die Menschen und lächle ihnen zu als wäre Wahlkampf. Keiner grüßt zurück. Einige spucken. Das ist nicht das einzige, was heute anders ist: Ein Jeep mit Spanienbanner und Lautsprechern auf der Kühlerhaube kreist unaufhörlich um den mittelalterlichen Kern und verbreitet – untermalt von Waka Waka – Angebote zur Annahme von Bewirtungsverträgen: „Heute Abend im ,Gegrillten Deutschen’ – drei Großleinwände, Freibier für jedes Spanien-Tor, Bedienung erfolgt durch junge Damen mit Blumen im Haar!“ In Wirklichkeit sagten sie das mit den Damen etwas kürzer, aber das tut jetzt nichts zur Sache.

Als mich die beiden muskelbepackten Männer in dem Jeep entdecken, beschleunigt der Fahrer und bringt den Wagen kurz vor mir zum Stehen. Die Entfernung Stoßstange-Scheinbein entspricht etwa der von Ball und Torlinie bei Lampards „Nearly-Equaliser“. Der größere der Beiden steigt aus. Kalter Angstschweiß schießt mir aus allen Poren und lässt das Podolski-Trikot unangenehm am Rücken kleben. „Hola!“, sagt der Mann, bei dessen Anblick Invalidität droht. „Du kannst auch kommen!“ Er überreicht mir einen Rabatt-Gutschein. „Aber zieh’ Dir was Anständiges an!“ Ich gelobe es und sichere außerdem eine größere Spende für den Fitnessclub zu. Er geht grußlos zurück zum Fahrzeug. „Na, wer sagt’s denn: Sind doch ganz nett, die Jungs!“ Und dass mich ihre beiden Söhne, die auf dem Rücksitz festgeschnallt sind, beim Wegfahren aus riesigen Plastik-Pumpguns mit einer übelriechenden Flüssigkeit bespritzen, kann ja mal passieren. Kinder halt!

Im Supermarkt mache ich einige Besorgungen. Für Dosenbier, Tiefkühlpizza und Pfefferspray habe ich 19 Euro 97 zu entrichten. Ich zahle mit einem 20er-Schein. „Haben Sie es nicht kleiner?!“ faucht die heute in eine rot-gelbe Tunika gewandete Kassiererin. Sie hat eine Blume im Haar. Ihr Haar ist schwarz. Ich verneine die Frage mit dem Ausdruck aufrichtigen Bedauerns. Das reicht ihr nicht, so entreißt sie mir die Geldbörse, kippt deren Inhalt auf’s Band, findet meine Angabe bestätigt, sagt: „Na, dann!“ und schnippt mir das Wechselgeld in drei Centstücken ins Gesicht. Sie zählt dabei: „Eins null, zwei null, drei null.“ Unter dem diabolischen Gelächter ihrer Kolleginnen, die zusammen Waka Waka choreographieren, verlasse ich das Lebensmittel-Etablissement.

In der Bibliothek teilt man mir mit, die gewünschten Bücher seien vorbestellt und könnten – „leider“ – nicht entliehen werden. Der Rest des Angebots bestehe für mich heute aus Standexemplaren. „Waka Waka?“

Ich gehe zum Markt und setze mich neben einen der 117jährigen Opas, die auch bei 43 Grad ihre dunklen Schläger-Mützen nicht abnehmen. „Guten Tag.“ Das Kinn auf die gekreuzten Hände und beides zusammen auf einen Holzstock gestützt, dessen Maserung im grellen Licht der Vormittagssonne an Puyols Locken erinnert, blickt der Greis regungslos grad’aus.
„Also, ich versteh’ das nicht! Was soll das? Heute ist so ein wundervoller Tag! Der Erbfolgekrieg ist vorbei, um unsere Olivenpaste beneidet uns die halbe Welt und überall junge Damen mit Blumen im Haar, har, har!“ Keine Reaktion. „Ich meine, es ist doch nur ein Spiel, kein Grund, sich zu strei...“ – „Hör zu, Junge!“ Er sagt „Junge“ auf deutsch und bleckt die beiden verbliebenen Zähne. „Macht Lampard das zwei zwei, muss Deutschland in der zweiten Halbzeit aufmachen, es ergeben sich Räume für Rooney und das Ding geht anders aus!“ Zur Klärung letzter offener Fragen flöten mir seine Kumpel (zusammen 308 Jahre und sieben Zähne) Waka Waka ins Ohr. Mit Vuvuzelas.

Ich haste wie in Trance zum Gemüsestand. Bittere Tränen schneiden sich ins Fleisch meiner Wangen. Die Marktfrau (schwarzes Haar, Blume, rot-gelbe Schürze) erfüllt lustlos und schweigend meinen Kundenwunsch. Auf meine höfliche Anregung, doch bitte nicht nur faule Tomaten einzupacken, landet ein Exemplar zwischen meinen Augen. Ich zahle (passend) und gehe. Auf dem Weg nach Hause begegnet mir eine Gruppe des kommunalen Kindergartens, die mir mit leicht schwäbischem Akzent „Du kannst nach Hause fah’n“ entgegenkrähen. Als sich die Erzieherin zu mir umdreht, sehe ich, dass sie eine grotesk verzerrte Maske mit dem Konterfei Franz Beckenbauers trägt. Ich versuche, dem basilisken Blick Beckenbauers zu entgehen und wende meine Augen direkt zur Sonne, aus der – kleinen Funken gleich – Spruchbänder entweichen, auf denen Dinge zu lesen sind wie: „Wenn wir hinten kompakt stehen... Druck aus dem Mittelfeld... Müller nur schwer zu ersetzen, aber...“ In schwäbischer Lautschrift.

Schweißgebadet wache ich auf. Meine Frau sitzt auf der Bettkante und hält meine Hand. „Du hattest einen furchtbaren Alptraum und...“ – „Wo bin ich? Was ist heute für ein Tag?“ – „Du bist in Spanien und heute ist Halbfinale. Wir schauen das zusammen mit Andrés und Carlos. Weißt Du doch! Aber geh’ bitte vorher noch einkaufen, ja? Wir brauchen Tomaten.“ – Waka Waka.

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