Treibsatz

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

Als ich das Bike starte und losfahre, stelle ich fest, wie die Ruhe, die mir der Nachmittag mit Manu geschenkt hat, nach und nach verschwindet. Es ist, als hätte ich mich kurzzeitig in einer Art Oase oder Blase befunden. Ich merke, wie sich meine Kiefermuskeln verspannen und ich immer wieder die Geschwindigkeit erhöhe, während ich die Skalitzer entlangfahre. Die Wut von heute Mittag auf den widerlichen Tätowierer kommt zurück, treibt mich an. Die Wut und die Verzweiflung. Horst Mann Wedel ist meine und Tigers letzte Chance.
Ich wende wieder am Schlesischen Tor, fahre langsam am Laden vorbei. Drinnen ist noch Licht zu sehen.
Also parke ich das Bike eine Ecke weiter und kreuze rüber auf den Mittelstreifen. Zwischen krüppeligen Büschen, leeren Flaschen und dem Geruch nach Urin von Pennern und Partygängern laufe ich unter der Hochbahn zurück. Ignoriere den Gestank, während ich mich an einen der grün-gestrichenen Metallpfeiler lehne.
Die letzten Geschäfte machen zu, der Spätkauf macht dagegen gutes Business. Der Dönermann auch. Erste bunte Lichter der Szene-Kneipen links und rechts legen einen angenehmen Schimmer über die Straße. Plötzlich geht im Tintenblut das Licht aus. Sofort stoße ich mich vom Pfeiler ab, mache ein paar Schritte näher an die Straße, um besser sehen zu können. Aber Wedel kommt nicht raus.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen versuche ich zu raffen, was passiert – hockt der Penner dort im Dunkeln? Hat er mich gesehen. Im ersten Stock geht Licht an, und kurz darauf sehe ich eine hagere Gestalt an einem Fenster auftauchen und nach den Vorhängen greifen.
Hastig sprinte ich über die Straße, nur kurz eine Sekunde abwartend, um einem direkten Crash mit einem hupenden Motorrad zu entgehen.
Am zweiten Fenster kann ich Wedel klar erkennen. Der hat seine Wohnung direkt über seinem Laden! Ich laufe rüber zur Tür und checke die Klingelschilder. Tatsächlich: Wedel.
Kurz von der Rolle fahre ich mir mit der Hand durch die Haare - versuche zu entscheiden, ob das gut oder schlecht für mich ist. Ohne zu einer Entscheidung zu kommen, checke ich kurz die Haustür. Verschlossen. Ich schätze, ich könnte irgendwo klingeln, aber für den Moment würde ich lieber auf jede Art von Aufmerksamkeit verzichten. Stattdessen gehe ich am Haus entlang und schaue nach einem Hofeingang. Gibt es – kurz darauf stehe ich auf einem L-förmigen Hinterhof, dessen Rückseite von einer niedrigen Reihe von Garagen gebildet wird.
Ich suche mir die Tür zum Hof, kann aber drinnen kaum was erkennen, es ist zu dunkel im Hausflur. Vom Licht der Straße scheint kaum etwas herein. Spielt also keine große Rolle, ob der Laden wirklich einen Seiteneingang aus dem Hausflur heraus hat. Mit einem unterdrückten Fluch balle ich die Fäuste. Die Tür des Ladens zur Straßenseite aufzubrechen erscheint mir keine sinnvolle Lösung – da werde ich sofort gesehen. Die Tür hier zum Hof wird sicher früher oder später auch von einem der Hausbewohner benutzt – irgendwer bringt immer seinen Müll runter.
Ich sehe mich unentschlossen auf dem Hof um. Vielleicht muss ich doch gleich zu ihm in die Wohnung. Plötzlich fällt mir eine ebenerdige Tür direkt neben den Kellerstufen auf. Von der Lage her kommt es hin, und als ich mich vorsichtig nähere, bemerke ich die transparenten Folien mit Tribals, die im kleinen Fenster direkt daneben hängen. Bingo!
Die Hände um die Augen gelegt, beuge ich mich vor und linse durch die stumpfen Scheiben. Viel kann ich wegen der Dunkelheit nicht erkennen, aber es sieht nach einer kleinen Küche aus. Könnte durchaus zum Laden gehören.
Mit einem letzten Blick über die Schulter um mich abzusichern, ziehe ich die Brechstange aus meinem Gürtel und setze sie am Spalt zwischen Tür und Rahmen, direkt oberhalb des Schlosses, an. Ich brauche nicht viel Druck – das Holz ist alt und zermalt unter der stoischen Gewalt der breiten Metallzunge mühelos. Ich muss bloß einmal nachsetzen, und kurz darauf lehne ich mich ein letztes Mal mit meinem ganzen Gewicht gegen die Stange. Ein trockenes Knacken und die Tür gibt auf. Ich stoße sie mit der Hand auf, sehe ein weiteres Mal nach hinten, aber der Hof ist ruhig - ich betrete den kleinen Raum. Umsichtig, um das halb herausgebrochene Schloss nicht zu verlieren, schließe ich die Tür hinter mir so gut es geht. Passe das Schloss wieder ein, und kann aber nur hoffen, dass bei den schlechten Lichtverhältnissen niemand die frischen Holzsplitter ringsherum bemerkt.
Die Eisenstange behalte ich in der rechten Hand und fische mit der anderen die Taschenlampe heraus. Ich schätze, es ist nicht schlimm, dass das Licht so trüb und diffus ist. Ich müsste ohnehin etwas tun, wenn es zu hell wäre, um von draußen nicht gesehen zu werden.
Aus der Küche, die erstaunlich aufgeräumt aussieht, geht ein kleiner Flur ab. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie habe ich Dreck und jede Menge schmutziges Geschirr von Wedel erwartet. Liegt vermutlich ausschließlich an meiner Antipathie ihm gegenüber.
Der enge Flur hat drei Türen – zwei davon stehen offen. Die eine, halb angelehnt, führt in eine Art kleines Büro mit einem Zeichentisch und einem Schreibtisch mit einem Rechner. Die Wände sind mit Regalen zugestellt, die jede Menge Ordner enthalten. Die offene Tür führt nach vorne in den Laden. Mit einem schnellen Griff ziehe ich sie heran und schließe sie. So kann ich mich immerhin hier hinten in Ruhe umsehen, ohne Gefahr zu laufen, gesehen zu werden.
Die verschlossene Tür gehört zu einem kleinen Klo. Ebenfalls erstaunlich sauber, allerdings sind die Wände mit einer Million schlauer Sprüche und kleiner Zeichnungen in schwarz, blau, grün und rot voll geschmiert. Klassische Wandzeitung.
Der einzige sinnvolle Ort für meine Suche ist das Arbeitszimmer. Ich gehe dort hinein und schließe die Tür. Traue mich allerdings nicht, Licht anzuschalten, da ein kleines, wenn auch vollgestelltes Fenster draußen in den Hof geht. Also muss mir meine Funzel genügen.
Stichprobenartig schaue ich in verschiedene Ordner. Ein kleiner Teil sind Buchhaltungsunterlagen – Abrechnungen, Belege und so offizielles Zeug. Der überwiegende Teil sind Vorlagen – Motive jeglicher Art. Egal wie abgefahren, ich bin mir sicher – irgendwo in diesen Dutzenden Ordnern würde ich es finden.
Das hilft mir alles nicht weiter. Ich setze mich in den Drehsessel am Schreibtisch und schalte den Computer ein. Große Hoffnungen mache ich mir nicht – ist bestimmt passwortgesichert. Versuchen muss ich es trotzdem.
Aber der Desktop öffnet sich ohne Benutzer-Abfrage und ohne mich aufzuhalten. Also fange ich an, mich durch die Dateien zu klicken. Versuche, aus den Ordner-Namen zu schließen, worum es geht. Manchmal gelingt das, teilweise nicht.
Wieder finde ich jede Menge Geschäftsunterlagen und noch mehr Dateien mit Motiven, Zeichnungen und Tattoos. In einem Ordner mit dem Namen Tattoo_Con finden sich alleine über 23.000 Dateien. Alles Fotos von Tätowierungen.
Ich benutze die Suchfunktion. Luisa und Karmann ergeben beide kein Ergebnis. Die Namen der anderen Opfer versuche ich gar nicht erst – endlos lange rattert der Rechner durch die hunderttausende an Dateien, bis er zu einem Ergebnis kommt. Für so dämlich halte ich den Typen nicht.
Ich verbringe fast eine Stunde an dem Computer, bis ich mir absolut sicher bin, auf dem nichts zu finden. Falls es sich nicht versteckte oder gelockte Dateien handelt, auf die ich keinen Zugriff habe, gibt es hier nichts, was Wedel zum Täter machen würde. Was habe ich erwartet?
Mit einem Stöhnen lehne ich mich zurück in den Sessel. Ich weiß es nicht. Irgendwas habe ich erwartet, mir erhofft – was genau, kann ich nicht sagen.
Mein Blick wandert über das vollgestellte Büro. Auf der linken Seite unter dem Schreibtisch steht ein Bisley für Unterlagen. Ich beuge mich vor, ziehe die Schubladen nacheinander raus. Weitere Unterlagen, aber nichts, was mir weiterhilft. Ich finde Wedels Krankenkassenkarte und einen Mitgliedsausweis für einen Kreuzberger Urban Golfclub.
Lauter als gewollt knalle ich die Schubladen frustriert wieder zu. Unter dem Regal links im Raum stehen ein paar bunte Pappboxen mit metallbeschlagenen Deckeln. Ich ziehe mir die erste heraus, sehe hinein. Postkarten, wie man sie umsonst in jeder Kneipe bekommt. Die meisten mit Motiven, die irgendwie eine Tätowierung enthalten, andere mit Streetart oder anderer urbaner Kunst. Deckel zu, ich schiebe ihn auf dem Teppich zurück. Nehme mir den nächsten, den mittleren der drei. Hier sind Polaroid-Fotos drin – alle ordentlich in drei Reihen aufgestellt. Das müssen Hunderte, wenn nicht Tausende sein. Mit klopfendem Herzen nehme ich mir von vorne einen Stapel und sehe ihn durch. Alles Frau – die meisten von ihnen entblößen gerade ein Bein, die Seite, den Hintern oder die Brüste – Tattoos sind keine zu sehen. Oder wenn nur am Rand, halb verdeckt. Mit zitternden Fingern sehe ich die Bilder weiter durch.

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