Trauerarbeit

Text zum Thema Trauer/Traurigkeit

von  Rudolf

Nepomuk steht einmal mehr vor Jessicas Grab. Er will sehen, ob die Trauerarbeit Fortschritte macht. Trauerarbeit, seit er Jessicas Grab kennt, weiß er, was dieses Wort bedeutet.

Pfarrer Winters ist gegen anonyme Beerdigungen. Nur selten sagt er so klar seine Meinung. Seine Aussagen bestehen aus Hintertüren. Abwägend zählt er auf, was man alles bedenken müsse. Immer gibt es eine unterstützende Bibelstelle, aber auch drei, die etwas ganz Anderes aussagen. Nur bei anonymen Beerdigungen bezieht Pfarrer Winters überraschend klar Position.
„Die Leute wissen sonst nicht, wo sie hingehen sollen“, erklärte er im Presbyterium. „Sie können beobachten, dass sich Menschen bei anonymen Urnenfeldern merken, wo die Urne ihrer Angehörigen beigesetzt wurde, und dort Blumen ablegen. Die Leute brauchen das, wenigstens einen Stein mit dem Namen des Verstorbenen.“

Jessicas Grabstein ist aus weißem Marmor. Ein lebensgroßer Engel sitzt neben ihm und legte einen Arm schützend über den Stein. Eine kleine Photographie ist in den Stein eingelassen. Der Engel hat verblüffende Ähnlichkeit mit dem lachenden Gesicht auf der Photographie. Auf der Grabfläche türmen sich Teddys, Blumen, Briefe an die Tote. Die Briefe sind gegen den Regen in Kunststoff eingeschweißt:

„Jessica, wir werden Dich nicht vergessen“, dabei würde vergessen helfen.

Ton- und Porzellan-Herzen mit dem Text „Ich liebe Dich“, Kerzen, viele Kerzen, Blumen, viele Blumen, frische Blumen, Monat um Monat, Jahr um Jahr. Zum Geburtstag wird alles aufgeräumt und es liegen neue Briefe auf dem Grab: "Herzlichen Glückwunsch zu Deinem 17. Geburtstag.", "Herzlichen Glückwunsch zu Deinem 18. Geburtstag."

Aber nicht nur zu den Geburtstagen oder zu den Feiertagen, zu Volkstrauertag oder zum Totensonntag wird das Grab gepflegt, sondern das ganze Jahr über. Es ist das lebendigste Grab auf dem Friedhof. Der Abschied will und will nicht gelingen. Zu plötzlich, zu unsinnig, zu schmerzhaft war ihr Sterben. Sie ist nicht mehr da und um das zu begreifen, muss die Erde mal um mal umgegraben werden. Täglich spätestens wöchentlich wird das Grab kontrolliert. Welche Blumen sind verblüht, welche Kerzen abgebrannt? Ist noch alles in Ordnung? Nein, hier ist nichts in Ordnung. Jessica ist tot und es tut weh. Und der Schmerz lebt an diesem Ort. Der Schmerz umgibt das Grab und wird für Nepomuk spürbar, obwohl er dem Mädchen nie begegnet ist. Gräber sind für die Lebenden.
„Wen Gott liebt, den holt er früh zu sich“, ein blöder Spruch.
„Hier ruht“, so ein Quatsch!
Hier arbeiten Lebende am Vergessen. Hier können sie hingehen, wenn es mal wieder zu weh tut. Hier leisten Lebende Trauerarbeit.

Jessica ist tot.

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Kommentare zu diesem Text

rätselhaft (78)
(02.04.11)
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 Rudolf meinte dazu am 04.04.11:
Jetzt frage ich mich auch, wer das mit den Steinen angefangen hat. Sie sind sicher etwas Dauerhaftes, etwas, was ich gegen die Vergänglichkeit den irdischen Resten eines Lebens aufpflanze. Hünengräber, Stonehenge, Pyramiden überall begegnen einem Steine. Sie mögen auch schlichte Machtdemonstrationen sein. Das Leben verstanden haben doch eher die Kulturen, die einäschern, die den toten Körper dem großen Mühlwerk von Leben und Tod zurückgeben - ohne viel Aufhebens. Selbst wenn die Gräber nicht nach dreißig Jahren abgeräumt würden, würden sich die Steine nach Jahrhunderten, -tausenden, -millionen einfach auflösen – selbst sie.
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