Nepomuks Wahnvorstellungen

Text zum Thema Wahnsinn

von  Rudolf

Nepomuk hat Wahnvorstellungen. Er leidet nicht darunter, er hat sie einfach. Wie jeder vernünftige Mensch weiß, dass morgens die Sonne aufgeht, so weiß Nepomuk, dass ein transzendentes, allmächtiges Wesen zu jeder Zeit, an jedem Ort das Geschehen steuert, kontrolliert und ursächlich bewirkt. Die Allmacht erstreckt sich über das gesamte bekannte Universum und alle unbekannten Paralleluniversen; sie bestand vor dem Urknall und sie wird bestehen, wenn die letzte Sonne ausgebrannt ist.

Das alles bildet sich Nepomuk natürlich nur ein, aber für ihn ist die Einbildung sehr realistisch und sehr intensiv. Er kann sie nicht von der wirklichen Welt unterscheiden, weil sie seine wirkliche Welt ist.

Der Beginn Nepomuks Erkrankung fällt in seine Schulzeit. Eines der Fächer, die der kleine Nepomuk über sich ergehen lassen musste, hieß Religionslehre.

In der ersten Stunde fragte die neue Lehrerin, wie die Welt entstanden sei. Der kleine Nepomuk hatte just in den Ferien ein Buch gelesen, in dem erklärt wurde, wie sich intergalaktische Nebel zu Materiehaufen verdichteten, wie es manche der Materiehaufen bis zur Größe einer Sonne schafften und wie durch Kollisionen zwischen Sonnen und anderen Materieklumpen Planeten entständen. Das Buch schränkte ein, dass sich die Wissenschaftler nicht ganz einig wären, wie die Welt entstanden sei, dass es sich um Theorien und Modelle handelte, dass weiter geforscht werden müsste. Der kleine Nepomuk war mächtig stolz, dass er sich mit seiner geringen Leseerfahrung an so ein hoch wissenschaftliches Buch herangewagt hatte.

Aufgeregt meldete er sich. Genau zu der Frage: „Wie ist die Welt entstanden?“ wusste er die Antwort. Es war die Überschrift eines Kapitels gewesen. Alles war in dem Buch genau erklärt worden mitsamt Abbildungen. Die Lehrerin nahm ihn dran und stolz trug er sein neu erworbenes Wissen vor, wobei er aus der noch frischen Erinnerung Formulierungen zitierte, die in dem Buch benutzt worden waren.

Dreißig Kinder und eine Lehrerin starrten ihn an. In jenem Augenblick in jener Schulstunde wurde der Keim für Nepomuks Erkrankung gelegt. Er merkte, dass mit seiner Antwort etwas nicht stimmte. Die Lehrerin schaute den jungen Nepomuk nicht unfreundlich an, ließ seinen Beitrag unkommentiert und fragte weiter, wie die Welt entstanden sei. Ihre Fragen wurden suggerierender und wandelten sich in ein, wer die Welt gemacht habe, bis schließlich die Klassenbeste aufgeregt ein erlösendes  „Gott!“ in die Klasse rief.
„Richtig, Gott.“ bekräftigte die Religionslehrerin erleichtert.

In diesem Augenblick zerbrach in dem kleinen Nepomuk eine Welt. Das war hochnotpeinlich. Ihm schoss das Blut in den Kopf, seine Ohren begannen rot zu glühen. Ein unbehaglicher Druck lastete plötzlich auf seinem Magen, mühsam unterdrückte er die Tränen, die sich in seinen Augen sammeln wollten. Von wegen Sternennebel und Materiehaufen, Theorien und unsichere, wissenschaftliche Erkenntnisse. Es gab eine Antwort, eine ganz einfache und er hatte sie nicht gewusst. Dabei hatte er von Gott schon so oft gehört. Wo immer sich Erwachsene trafen, hörte er: „Oh Gott! Um Gottes Willen! Mein Gott! Herr Gott, nochmal! Oh Gott, oh Gott!“

An diesem Tag verließ ein gebrochener kleiner Junge grübelnd die Schule, eine Sache war unauslöschlich in sein Gehirn gebrannt: Gott hat die Welt geschaffen. Mit hängendem Kopf und hängenden Schultern den Blick starr auf den Bürgersteig vor sich gerichtet schlurfte er heim. Diese Körperhaltung würde er in den kommenden Jahren nicht mehr ablegen. Er versank in ein langes Selbstgespräch. Die Wahnvorstellungen nahmen ihren Lauf.

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Kommentare zu diesem Text


 loslosch (29.07.10)
... Ihre Fragen wurden suggestiver ...

o Gott, o Gott. Dann gibt es noch den Gottseibeiuns. Die Qualität des Textes lässt sich nur im Nachhinein beurteilen, wenn Nepomuks Complaints alle auf dem Tisch liegen. Lothar

 Rudolf meinte dazu am 30.07.10:
Oh Gott! Danke für den Hinweis. Da muss ich nochmal ran. Der Nepomuk soll ein ganz normaler Schüler gewesen sein mit Lieblingsfächern und -lehrerinnen, aber auch mit Langeweile, Sinnlosigkeit und Lösungslosigkeit gerungen haben. Vielleicht beharrte die Lehrerin einfach auf ihre Frage und wollte wissen, ob es noch andere Meinungen gab.

 RainerMScholz (20.12.12)
Komischerweise scheint die Antwort Gott einfacher zu sein, als alle anderen.
Grüße,
R.
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