Memory

Roman zum Thema Verfolgung

von  Mutter

Ich höre die Wohnungstür zuklappen. Manu ist gegangen – sie hatte mir angeboten, das Telefonat mit den Kellers alleine zu führen. Zuerst wollte ich abwiegeln – ihr anbieten, die Sache ebenfalls gemeinsam zu machen. Aber bevor ich richtig in Fahrt komme, merke ich, dass da tatsächlich etwas dran ist – ja, ich würde gerne mit Familie Keller alleine telefonieren. Ich könnte nicht genau sagen, warum. Vielleicht fühle ich mich unbefangener, oder weniger beobachtet.
Sie überspielt meine Verlegenheit mit einem wunderbar süßen Lächeln und einer Berührung an der Wange. „Ist schon in Ordnung. Ich muss ohnehin die ersten Entwürfe zu Dorit bringen und bi eine Weile weg. Aber erzähl mir hinterher, wie’s gelaufen ist, ja?“
Ich nicke. Weiß nicht genau, was ich sagen soll.
„Hey! Es ist okay, Luca. Wirklich.“ Ihre Stimme ist fast ein Flüstern und mit einer letzten leichten Berührung ihrer Hand an meinem Brustbein geht sie.
Während ich ihr Festnetztelefon unschlüssig in der Hand hin und her wiege, überlege ich, was gerade passiert ist. Ob es vielleicht immer noch innere Widerstände sind, die verhindern wollen, dass ich diese Suche mit Manu teilen kann. Aber das glaube ich nicht – ich bin froh, dass ich sie mich begleitet - mir hilft, den Weg zu finden.
Mit einem Achselzucken verdränge ich die Gedanken und wähle kurzentschlossen die Hamburger Nummer.
„Ja, Keller?“ Es ist eine weibliche Stimme, vermutlich Mutter Keller. Ich würde sie auf vierzig oder fünfzig schätzen.
„Frau Keller? Guten Tag, mein Name ist Luca Monteleone. Ich bin Erzieher – ein Kollege von Christoph Harder.  Sagt Ihnen der Name etwas?“
Sie scheint zu überlegen. Als sie nicht weiter antwortet, fahre ich fort: „Wir haben beide in dem selben Jugendfreizeitheim gearbeitet. Vor zwei Jahren gab es dort ein Projekt, bei dem Jugendliche …“
„Es geht um Tiger, oder?“
„Wie kommen Sie darauf?“
Diesmal ist sie offenbar nicht bereit, sofort zu antworten. Ich merke, wie sich mein ganzer Körper verspannt  – so würde sie nicht reagieren, wenn es um die Sache von früher ginge. „Ist irgendwas passiert? Hat sich Tiger in letzter Zeit bei Ihnen gemeldet?“
„Nein, nein. Von Tiger haben wir seit damals nichts erfahren. Ihr Kollege hatte noch ein paarmal mit uns telefoniert - er hatte sich schreckliche Sorgen gemacht.“
„Die Polizei hat sich bei Ihnen gemeldet, oder?“
Sie zögert. Sagt dann: „Ja, ein Kommissar vom LKA Hamburg war bei uns. Er hat mit meinem Mann gesprochen.“
„Wissinger?“
„Ich glaube, so hieß der Mann, ja. Groß, mit langen silbergrauen Haaren.“
„Haben Sie ihm irgendwas erzählen können?“
„Warum interessiert sich jeder plötzlich für diese ganze Sache? Warum ist das wieder aktuell?“ Ihre Stimme klingt müde, mit einem Hauch Verzweiflung. Wahrscheinlich, weil sie nicht versteht, was um sie herum vorgeht. Aber bei ihren Worten werde ich hellhörig. „Wer ist jeder? War außer Wissinger noch jemand bei Ihnen?“
Ich habe ins Schwarze getroffen – kann sie wie zur Bestätigung am anderen Ende der Leitung stumm atmen hören. „Wer war es?“
Endlich antwortet sie. „Ich weiß es nicht – er hat seinen Namen nicht gesagt. Er hat gestern Nacht sehr spät angerufen und nach Tiger gefragt. Ob wir etwas von ihm gehört hätten. Ob er in Hamburg sei.“
Meine Stimme überschlägt sich leicht, als ich frage: „Hat der Mann mit einem französischen Akzent gesprochen?“
Ihre Antwort lässt mich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren. „Nein, der Mann war eindeutig Deutscher. Norddeutsch, vielleicht aus Hamburg.“ Ich bin nicht sicher, welche Theorie ich ad hoc aufgestellt hätte, wenn es sich um den gleichen Anrufer wie bei Sodom gehandelt hätte – aber es wäre wenigstens eine Verbindung gewesen, verdammt noch mal!
So passt wieder kein Teil zum nächsten. Als würde man Memory mit lauter Unikaten spielen. Ich kann nicht verhindern, dass ich leise in den Hörer seufze. „Was hat Wissinger dazu gesagt?“, versuche ich den Ball erneut aufzunehmen.
„Nichts. Er weiß nichts davon – der Mann hat wie gesagt gestern sehr spät angerufen. Ich war mir ohnehin nicht wirklich sicher, ob es für die Polizei wichtig wäre. Glauben Sie, wir sollten das LKA anrufen?“
„Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Hat der Mann noch etwas gesagt?“
„Er hat eine Telefonnummer dagelassen – sagte, wir sollen uns melden, falls Tiger auftaucht. Es sei wirklich dringend, und Tiger in Gefahr.“
„Eine Nummer?“ Vielleicht doch nicht nur Unikate – ein Pärchen ist möglicherweise dabei. Mit zitternden Händen greife ich danach. „Können Sie sie mir geben?“
„Stimmt das? Ist Tiger wirklich in Schwierigkeiten? Ist das wahr, was der Mann sagt?“
„Das weiß ich nicht. Möglicherweise ist es übertrieben. Das wird sich alles herausstellen. Die Nummer?“ Ich versuche, betont entspannt zu klingen.
„Oh, natürlich. Moment.“
Ich warte, bis sie kurz darauf den Hörer wieder aufnimmt.
„Hören Sie?“ Sie nennt mir eine Nummer mit Hamburger Vorwahl, die ich mir eilig auf einem Zettel notiere. Und mit ihr noch dreimal durchgehe, um sicherzustellen, dass ich auch ja keinen Zahlendreher drin habe.   
Zum Ende unseres Gespräches bedanke ich mich bei ihr für ihre Hilfe und verspreche hoch und heilig, der Familie Bescheid zu geben, sobald ich etwas über Tiger herausfinde. Und ihm zu sagen, er solle sich bei ihnen melden.
„Wir haben ihn gerne bei uns gehabt“, erklärt sie mir kläglich, bevor wir uns verabschieden.
Mein nächster Anruf gilt Frank. Ich umreiße kurz, wer die Familie ist, weil ich sichergehen will, dass er zu jeder Zeit genau das Risiko einschätzen kann, in das er sich begibt. Ich habe keinen Bock, dass Matze irgendwann vor meiner Tür steht, weil Frank seinen Job verloren hat. Wegen Scheiß, den er für mich gemacht hat. „Was ist mit denen?“
„Ich habe eine Nummer von jemandem, der bei ihnen angerufen hat. Jemand, der nach Tiger gefragt hat und sie gebeten hat, ihn zu informieren, sobald Tiger sich meldet.“
Frank saugt mit einem leisen Pfeifen Luft zwischen den Zähnen ein. „Klingt ja nach einer echten Spur.“
„Ja, scheint so – kannst du da was machen?“
„Die Nummer rauskriegen? Klar, das ist kein Ding. Ich melde mich, sobald ich was habe.“

Manu ist wieder da, und sie hat frische Croissants mitgebracht. Wir sitzen zusammen am Tisch und trinken grünen Tee, als mein Handy klingelt. Diesmal hat sie die beiden Plätze nebeneinander gedeckt. Nicht gegenüber, wie sonst vorher immer. Ich nehme das zur Kenntnis, ohne zu begreifen, warum. Es ist nicht wichtig.
Während ich den ‚Annehmen‘-Knopf drücke, versuche ich den letzten Bissen herunterzuschlucken. Es ist Frank.
„Hey“, sage ich. Leicht undeutlich, weil ich noch mit Kauen beschäftigt bin.
„Was ist denn das für ein komischer Vogel?“
„Wer – von dem wir die Nummer haben? Warum?“
„Herrmann Schellstädter. Der Knabe ist fast sechzig, ist in Hamburg Steilshoop gemeldet und hat, halt dich fest, einen französischen Pass.“
Ich sehe Manu an, die neugierig eine fein geschwungene Augenbraue hochzieht. „Okaaaay“, sage ich gedehnt. Bin mir nicht im Klaren darüber, was das jetzt bedeutet. Für uns – und für Tiger.

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