Nachtfahrt

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

Es ist nach sieben, bis Dirty endlich da ist. Er hatte noch zweimal angerufen und sich entschuldigt, bis er endlich anruft, um zu sagen, dass er vor der Tür steht.
Unten frage ich ihn, ob ich ihn noch kurz irgendwohin fahren soll, aber er schüttelt den Kopf. „Passt schon, Alter. Ist Manu oben?“ Ich nicke. Er sagt mit einem Grinsen: „Sie soll auf dich aufpassen, okay? Damit du keine Scheiße baust.“
„Sag ich ihr. Viel Glück heute Abend. Und die nächsten Tage.“
„Das wird schon werden. Jetzt geht’s los – das ist meine Zeit, Bruder. Ich hab’s im Urin.“ Er streckt mir die Faust entgegen, unsere Knöchel berühren sich. Danach packt er mich in eine feste Umarmung. Wir lassen uns nicht mehr los. „Ich bin in Gedanken bei dir, Kleiner“, sagt er dicht neben meinem Ohr. Ich nicke.
Endlich lösen wir uns voneinander. „Halt mich auf dem Laufenden“, sagt er zum Abschied und macht eine Telefonieren-Geste mit kleinem Finger und Daumen Richtung Ohr.
„Ich mache dir stündlich Meldung.“
Er hebt ein letztes Mal die Hand zum Abschied, während er mit seiner Sporttasche in der Linken die Straße runtergeht. Ich sehe auf den Autoschlüssel in meiner Hand, werfe einen Blick auf den in der Parklücke hockenden Clio und gehe hoch zu Manu.
Sie hat bereits einen Rucksack in den Flur gestellt. „Kann’s losgehen?“
„Sicher. Ich bin startklar.“ Ich hole aus der Küche noch zwei Flaschen Wasser und stecke sie in meine Tasche.  „Brauchen wir sonst noch was? Essen?“
„Glaub nicht. Kümmern wir uns da drum. Oder?“
Ich nicke und schnappe mir meine und ihre Tasche. Sie quittiert die Aktion mit einem kleinen Lächeln. Verlegen zucke ich mit den Achseln. „Testosteron.“
„Schon gut. Solange ich ab und zu auch deine Tasche tragen kann.“
„Geht klar“, antworte ich erleichtert.
Kurz darauf sitzen wir im Wagen. Ich hatte ihr angeboten, sie fahren zu lassen, aber sie hatte abgelehnt. „Lass mal. Schätze, Dirty ist es lieber, wenn er dich zur Sau machen kann, falls was passiert.“
Ich hatte ihr zustimmen müssen.
Sie sagt unvermittelt: „Wieso heißt Dirty eigentlich so? Ich meine – als ich den Namen das erste Mal gehört habe, hatte ich einen völlig verdreckten Kerl erwartet. Der sich nicht wäscht oder so.“
Ich muss lachen. „So einen hatten wir auch mal in der Crew. Den haben alle nur Crusty genannt.“
„Wie widerlich.“ Sie schüttelt sich theatralisch.
„Weißt du, wie Dirty richtig heißt?“ Sie schüttelt den Kopf.
„Patrice Landry“, erkläre ich. „Und Landry klingt so, wie ein Franzose das englische laundry aussprechen würde.“
„Wie Wäsche?“
Mit einem Grinsen nicke ich. „Dirty landry, hatte damals sofort jemand gesagt. Und ich glaube, Jasmin fand den Namen passend. Wegen der Witze unter die Gürtellinie. Also haben wir ihn behalten.“
Sie überlegt einen Augenblick. „Macht er ihn was aus? Also ärgert er sich manchmal darüber?“
„So wie ich ihn einschätze, versteht er das eher als eine Auszeichnung. Nein, ich glaube nicht, dass es ihm was ausmacht. Aber wer weiß das bei Spitznamen schon so genau – irgendwann werden die zu einer Art zweiten Haut.“
„Ja.“ Sie sieht stumm nach vorne, hängt eigenen Gedanken nach. Nach einer Weile fragt sie: „Hast du Musik dabei? Ich habe ein paar CDs eingesteckt.“ Bevor ich verneinen kann, ist sie bereits dabei, eine der Scheiben rauszusuchen und in den Player zu schieben.
Als die ersten zarten Töne sich zwischen das niederfrequentere Dröhnen des mächtigen Motors weben, frage ich: „Wer ist das?“
„Eine Österreicherin. Also sie und ihre Band. Die gibt es noch nicht so lange – magst du sie?“
„Ja. Das ist schön – so … wehmütig.“
Ich kann aus dem Augenwinkel sehen, wie sie zufrieden grinst. Als sei sie mit meiner Einschätzung voll und ganz einverstanden.
„Hast du Angst?“, frage ich sie plötzlich. Weil mir klar wird, dass ich Angst habe – um sie.
„Wovor?“
Ich schaffe es nicht sofort, zu antworten. Finde keinen Satz, der nicht pathetisch, überzogen oder banal klingt. Also fragt sie weiter: „Vor dem Mörder? Wer auch immer das ist? Wegen der Ähnlichkeiten?“
Ich nicke stumm. Halte das Lenkrad fest umklammert, als würde mir das Konstanz geben. Manu überlegt eine Weile, sieht aus dem Fenster und zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht, ja. Aber irgendwie ist das nicht so schlimm. Ich meine, beängstigend ist das Ganze ohnehin. Auch wenn es nur um Luisa gegangen wäre. So ein widerliches, klammes Gefühl, das nur konkreter wird, weil ich weiß: Es ist noch nicht zu Ende, es könnte weiter gehen. Das macht es nur noch wichtiger, dass wir herausfinden, wer oder was dahintersteckt. Es zu Ende bringen. Weißt du, was ich meine?“
Sie sieht mich von der Seite an, ihr Gesicht ein helles Oval in der Dunkelheit.
„Ja, ich weiß, was du meinst.“ Irgendwie beruhigen mich ihre Worte – als hätte sie einen Plan, der mir selbst fehlen würde. Sie strahlt eine grundlegende Sicherheit aus, die ein Stück weit für uns beide reicht. 
Den Rest der zweieinhalb Stunden hören wir weiter Musik – vieles, was ähnlich und trotzdem anders ist. Alles melancholisch und ruhig. Diese Art von Sound prägt unsere Fahrt nach Hamburg, und ich habe nach kurzer Zeit das Gefühl, dass ich diesen Abend für den Rest meines Lebens nicht vergessen werde. Wahrscheinlich kann ich noch in Jahren genau dieses Gefühl von Ziehen in der Seele abrufen - zusammen mit Manu, im Dunkeln, auf der Autobahn. 
Als wir die Stadtgrenze von Hamburg erreichen, fragt Manu mich: „Wo werden wir bleiben? Hätten wir uns um irgendwas kümmern müssen?“
„Habe ich schon.“ Mit einem Blick in den Rückspiegel setze ich den Blinker, um die Spur zu wechseln. Wir müssen von der Autobahn runter. „Ich habe vorhin, als wir auf Dirty gewartet haben, im Netz eine Pension rausgesucht. Nicht weit von Schellstädters Wohnung entfernt. Dort habe ich uns was für eine Nacht gebucht.“
„Sehr gut. Ist es noch weit?“
Statt zu antworten zeige ich auf das Schild, das den Weg zum Stadtteil Steilshoop weist. Sie nickt. „Was ist das für ein Viertel?“
Ich verziehe das Gesicht. „Alles, was ich im Netz darüber gefunden habe, klang nicht so gut. So ein bisschen wie das Neukölln von Hamburg.“
„Einwanderer-Viertel?“
„Ja, mehr oder weniger. Ich bin ja mal gespannt, was für ein Kollege dieser Schellstädter ist.“
Unser Gespräch verebbt und die Worte machen dem wabernden Neon-Licht Platz, das von draußen ins Wageninnere eindringt und über unsere Gesichter flutet.
Mir fällt zu der Pension noch etwas ein. „Sag mal“, fange ich an. Sie sieht mich erwartungsvoll an und ich rede weiter: „Ich habe ohne nachzudenken ein Doppelzimmer gebucht. Ist das ein Problem?“
„Ist es ein Doppelbett?“, fragt sie und ich kann hören, dass sie die Frage nicht ernst nimmt.
„Weiß ich nicht. Wäre das ein Problem?“
„Hättest du dir mit Dirty ein Doppelzimmer geteilt?“
Mit einem lauten Lachen antworte ich: „Klar.“
„Dann ist es auch kein Problem für mich. Gut?“
„Gut“, antworte ich zufrieden.
Ich biege in Schellstädters Straße ein, orientiere mich kurz und drehe ein Stück die Straße runter, um dann einzuparken. Zeige circa fünfzig Meter weiter vorne auf einen Hauseingang. „Dort ist es.“
„Was ist mit der Pension? Müssen wir zu einer bestimmten Uhrzeit dort sein?“
Ich schüttle den Kopf. „Die haben die ganze Nacht jemand an der Rezeption. Wir können kommen, wann wir wollen. Jetzt ist es kurz vor zehn. Ist es zu spät, um bei Schellstädter zu klingeln?“
Sie denkt nach, grinst. „Nein. Los – ich will wissen, was er damit zu tun hat.“
Wir steigen aus, ich blippe das Auto zu. Langsam nähern wir uns der Haustür. Ich gehe im Kopf die Optionen durch, die wir haben. Wir könnten woanders klingeln, damit er erst direkt oben vor seiner Tür mit uns konfrontiert wird. Aber es ist spät – ich weiß nicht, wie oft wir klingeln müssen, bis uns jemand aufmacht, um Kataloge, Werbung oder sonstiges in den Hausflur zu liefern. Also klingele ich bei Schellstädter direkt. Wenn er wissen will, wer wir sind, nuschle ich ihm was in die Gegensprechanlage und klingele so oft, bis er die Nase voll hat und uns einfach aufmacht. Aber meine Gedanken waren völlig umsonst – ohne jedes Knacken der Anlage ertönt der Summer. Überrascht werfe ich meine Schulter gegen die Tür, kurz bevor sie sich wieder schließt. Den Klingelschildern nach wohnt er im Hinterhaus, oben im dritten Stock. Wir gehen durch den dunklen Hausflur, nachdem ich den Lichtschalter mehrfach ohne Ergebnis gedrückt habe. Der Innenhof wird schwach durch die vielen Fenster beleuchtet – ich versuche zu erkennen, wo Schellstädter wohnt, bin aber unsicher, welche Fenster zu welchen Wohnungen gehören. Im Hausflur des Hinterhauses geht das Licht – wir steigen die geputzte aber heruntergekommene Treppe nach oben. Immer wieder spähe ich auf die Klingelschilder. Manche sind aus Messing - die Namen eingraviert - aber manche der später Hinzugezogenen sind bereits durch Emaille, Papier oder Klebeband ersetzt worden.
Schellstädter wohnt offenbar lange genug hier – er hat eines der ursprünglichen Schilder draußen an seiner Wohnung.
Ein letztes Mal sehe ich zu Manu rüber – sie nickt. Ich atme tief ein und überlege, was wir machen, wenn sich Schellstädter nicht als harmlos entpuppt. Keine Ahnung, ist meine Antwort. Unzufrieden verziehe ich das Gesicht, drücke aber trotzdem kurzentschlossen den Klingelknopf. Lärmend ertönt die schrille Klingel auf der anderen Seite der Tür. Ich zucke zusammen.

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