Furunkel

Roman zum Thema Außenseiter

von  Mutter

„Der geht ein Bier trinken, der Penner“, stellt Manu fassungslos fest. „Sieht so aus“, antworte ich. Bemerke plötzlich, wie dicht sie neben mir steht. Wie nah ihr Körper meinem ist – ihre Hüfte berührt meinen Oberschenkel. Der Moment wird unterbrochen durch ein leises Lachen, das ich erst an meiner Seite spüre, und dann höre.
„Was ist?“, frage ich flüsternd.
Manu macht eine Bewegung mit dem Kinn nach vorne. „Hast du gesehen, wie der Laden heißt?“ Ich kneife die Augen zusammen, bin aber nicht schnell genug.
„Furunkulus“, sagt sie und lacht dabei immer noch heiser, weil sie das Geräusch unterdrücken will. Dabei ist niemand in der Nähe, der sie hören könnte. Und ich wünsche mir so sehr, dieses Lachen richtig zu hören - voll und tief. 
Es dauert nicht lange, und unsere Fröhlichkeit verebbt. „Ich habe immer noch Hunger“, stelle ich fest. Manu nickt. „Was machen wir jetzt?“, fragt sie mich mit einem Seitenblick.
„Ich gehe mal gucken – bleib kurz hier.“ Ohne abzuwarten, ob sie einverstanden ist, löse ich mich von der Hausecke und überquere die Straße. Nähere mich der Kneipe und werfe im Vorbeigehen einen Blick durch eines der kleinen, gelb getönten Fenster. Als ich mir sicher bin, dass mich niemand bemerkt, nehme ich mir einen Augenblick. Die Szenerie drinnen könnte auch zu jeder beliebigen Berliner Eckkneipe gehören. An dem Lokal ist absolut nichts besonders, nicht, was ins Auge fällt. Außer unser Mann Schellstädter. Ich stoße mich von der Wand ab und passe eine Lücke im langsam fließenden Abendverkehr ab, um zu Manu zurückzukehren.
„Und?“
Ich schürze die Lippen, sehe zurück auf das Furunkel. „Der sitzt drinnen an der Theke und trinkt ein gepflegtes Helles. Sieht nicht so aus, als hätten ihm unsere Fragen zugesetzt.“
„Was machen wir jetzt? Hocken wir hier draußen, bis er sich die Hucke zugesofffen hat?“ Als ich nicht antworte, fährt sie fort: „Und selbst wenn – was dann? Werfen uns auf seinem Nachhauseweg auf ihn?“ Sie sagt das als Witz, aber ich hatte tatsächlich bereits drüber nachgedacht. Aber wie ich die Wahrheit aus ihm herausbekommen würde, wenn ich ihn in einer dunklen Gasse ansprang – das wusste ich auch noch nicht.
„Ich hole erstmal das Auto. Dann müssen wir hier nicht rumstehen, sondern können sitzen. Gut?“
„Klingt vernünftig. Und wenn du da bist, hole ich uns was zu essen. Wie wäre das?“
Ich verabschiede mich von mir mit einer festen Umarmung – als würde ich für länger gehen. Nicht bloß ein paar Straßen weiter einen Clio ausparken. Aber irgendwie ist uns beiden nicht ganz wohl bei der Geschichte. Und aus diesem Unbehagen resultiert die merkwürdige Verabschiedung – innige Umarmung statt saloppem Händeheben.
Als ich in die Straße, in der die Kneipe liegt, einbiege, halte ich bereits nach Parkplätzen Ausschau. Das gestaltet sich schwierig – hier ist eine Wohngegend. Plötzlich bemerke ich weiter vorne auf der anderen Straßenseite Manu. Sie steht in einer Lücke, die sie offenbar gerade gegen einen Audi-Fahrer verteidigt hat. Mit einem Grinsen lege ich eine geschmeidige Drei-Punkt-Wende ein und parke dann gekonnt rückwärts ein.
„Ich bin beeindruckt“, sage ich, als ich aussteige. Und wir uns wieder umarmen.
„Weil ich mitgedacht habe?“ Während ich nicke, tut sie es mit einem Schulterzucken ab, als sei das eine Selbstverständlichkeit.
„Was willst du essen?“ Sie sieht mich mit wachen Augen von halb unten an und am liebsten würde ich sie gleich wieder in den Arm nehmen. „Keine Ahnung – was gibt’s?“
Sie schnaubt. „Das hier ist Großstadt – vielleicht nicht Berlin, aber jede Menge Straßenfutter wird sich trotzdem auftreiben lassen.“
„Ich habe keine Ahnung – das überfordert mich. Bring mir irgendwas mit, okay?“
„In Ordnung – aber beschwer dich hinterher nicht, ja?“ Diesmal geht sie tatsächlich und hebt nur die Hand zum Abschied. Und während ich ihr hinterher schaue und zurück in den Clio gleite, vermisse ich die Umarmung. Vielleicht sollten wir das als feste Regel einführen – kein Abschied ohne Drücken. Mit einem Seufzen richte ich meinen Blick auf die Kneipe. Frage mich, was passieren würde, wenn ich zu Schellstädter reingehen und mich neben ihn an den Tresen setzen würde. Mir ebenfalls ein Bier bestellen und den Jungs dort ein paar Fragen stellen würde. Das bleibt ein theoretischer Gedanke – ich bin mir ziemlich sicher, ich würde da schnell jede Menge Ärger bekommen. Jungs in einer Stammkneipe halten meistens besser zusammen als industrieller Lederkleber.
Während ich warte, schaue ich immer wieder auf die Uhr. Manu müsste längst wieder hier sein. Nervös wandernd mein Blick die Straße hoch und runter, nur um zurück zur Kneipe zu zucken. Zweimal steige ich aus und gehe vorsichtig zur Kneipe rüber. Schellstädter sitzt immer noch an seinem Platz, vor einem halben Liter Bier.
Als sich endlich die Beifahrertür öffnet, zucke ich zuerst erschrocken zusammen und atme dann vor Erleichterung tief durch. Manu schiebt sich mit einem ganzen Arm voll Zeug ins Auto. Es riecht krass nach Essen.
„Oh mein Gott, wie viele Leute sollen davon satt werden?“
Sie grinst. „Hey, ich habe gesagt, du sollst dich nicht beschweren – konntest dich ja nicht entscheiden. Also?“
Es gibt eine Pizza Mozzarella, einen in Alufolie eingewickelten Döner ohne Zwiebeln, ein Karton Thai-Food, mittelscharf und ein doppelt gebackenes Fischfilet.
Mit einem Lachen schüttle ich den Kopf. „Ich … äh. Keine Ahnung.“
„Gut, dann ganz einfach. Alles wird geteilt – brüderlich.“ Mit diesen Worten bricht sie Teile vom Fisch ab und reicht ihn mir. Danach essen wir gemeinsam. Manches teilt sie und reicht es mir rüber, bei anderen wandert das Essen zwischen uns hin und her. Sie einen Bissen, ich einen Bissen. Ich genieße die Situation, fühle mich merkwürdig unbeschwert. Als würden wir uns in einer skurrilen Urlaubssituation befinden – weit weg vom Alltag.
„Haben wir auch was zu trinken?“, frage ich, während ich mir die Hände und den Mund an einer der mitgebrachten Servietten abputze. Manu nickt und fischt etwas aus dem Fußraum. „Bionade – Litschi. Cola, eine Flasche Wein und zwei Flaschen Budweiser.“
„Du hast einen Knall!“, sage ich bewundernd. „Ich will ein Bier.“
Kokett antwortet sie: „Ich hätte auch die Flaschen mit dir geteilt.“
Während ich das kühle Bier in großen Schlucken trinke, behalte ich weiter den Eingang der Kneipe im Auge.
„Ich nehme an, er hat sich nicht gezeigt, oder?“
„Hockt da drinnen – ich habe noch ein paarmal einen Blick riskiert.“
Nach einer Weile steige ich aus, um den ganzen Müll zu entsorgen –Verpackungen und leere Flaschen.
„So!“, sage ich, als ich wieder einsteige. „Langsam könnte der Mistkäfer mal nach Hause gehen. Ich fange an, die Lust zu verlieren.“
Manu nickt und rutscht tiefer in ihren Sitz, um es sich bequemer zu machen. „Übernimmst du die erste Wache? Dann mache ich kurz die Augen zu.“
„Klar“, antworte ich und betrachte sie von der Seite. Dort im Halbdunkeln hat sie so gar keine Ähnlichkeit mit ihrer Schwester mehr. Manu sieht viel gelassener, selbstbewusster und stärker aus, als ich Luisa in Erinnerung habe. Aber stimmt das? Entspricht das wirklich der Wahrheit, oder sind es die Erlebnisse der letzten Zeit, die meine Wahrnehmung verändern? Luisa, das Opfer, und Manu, die noch die Chance hat, einen aktiven Part in dieser Geschichte zu übernehmen? Wahrscheinlich tue ich Luisa Unrecht – möglicherweise hätte ich das Gleiche über sie gedacht, würde sie jetzt hier mit mir im Auto sitzen.
Ich wende den Blick nach vorne, starre durch die Frontscheibe. Konzentriere mich wieder auf alte Männer und ihre abendlichen Kneipengänge.

Um kurz vor zwölf berühre ich Manu leicht am Arm. Die feinen Härchen auf ihrer Haut lassen sie ganz weich erscheinen. Sie schreckt hoch wie aus tiefem Schlaf. „Huh?“
„Es geht los. Schellstädter ist auf dem Weg nach Hause.“
„Fahren wir ihm hinterher?“
Ich schüttle den Kopf. „Kannst du das machen? Ich würde gerne kurz in die Kneipe und mit den Kollegen dort sprechen.“  Ich sehe sie an – diesmal lasse ich ihr die Wahl, abzulehnen.

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