Schwerpunkt

Roman zum Thema Aggression

von  Mutter

Als ich draußen vor die Tür trete, ziehe ich die Jacke fester um mich. Es hat sich deutlich abgekühlt, und ein empfindlich kalter Wind streicht durch Hamburgs Straßen. Ich setze mich in Bewegung, um zu Schellstädters Wohnung zu kommen. Während ich laufe, merke ich, wie mir der Alkohol zusetzt. Den Tag über nicht genug gegessen – ich bin froh, dass uns Manu vorher so gut versorgt hat.
Es dauert keine fünf Minuten, bevor ich vor Schellstädters Haus stehe. Mein Puls beschleunigt sich, als ich Manu nirgendwo sehe. Fünfzig Meter die Straße hoch und runter, Wechsel auf die andere Seite. Keine Manu. Meine Blicke zucken schneller hin und her, meine Bewegungen werden fahriger. Fuck, wo ist sie?
Mein Mund wird trocken, klammer Schweiß steht mir trotz der kühlen Luft auf der Stirn. In dem Moment geht die Tür zum Haus auf – ein junger Türke kommt raus. Bevor ich weiter nachdenken kann, sprinte ich los. Er zuckt zusammen, aber ich ignoriere ihn und schiebe mich durch die zufallende Tür. Soll er denken was er will. Im Laufschritt durchquere ich den Hausflur und stehe im Innenhof. Wieder wandert mein Blick hoch, um Schellstädters Fenster zu suchen, aber ich weiß immer noch nicht, welches seins ist. Ich drücke die Tür auf, stürze durch den dunklen Flur. Die Mühe, den Lichtschalter zu drücken, mache ich mir nicht. Ich nehme die Stufen zwei auf einmal, falle einmal fast hin, nur um mich mit den Händen auf den Stufen abzustützen. Erreiche den dritten Stock und will mich gerade gegen Schellstädters Tür werfen, als ich ein gezischtes „Hey!“ höre.
Ich zucke herum – dort im Dunkeln, eine halbe Treppe höher, hockt jemand. Mir ist, als würde mir das Herz oben auf der Zunge schlagen.
„Hey Luca“, sagt Manu mit weicher Stimme. Ich kann ihr Lächeln hören, auch wenn ich es nicht sehen kann.
„Mein Gott, hast du mich erschreckt. Was machst du hier?“ Ich zwinge meine aufgeregte Stimme zu einem Flüstern. Langsam steige ich zu ihr hoch, setze mich neben sie.
„Observieren.“ Manu sieht mich an, ich erahne ihr Gesicht im Dunkeln. Und ihr fettes Grinsen. „Hast du mich gesucht? Du sahst sehr in Eile aus. Und hast eine Riesen-Menge Lärm gemacht.“
„Hab ich arg gepoltert?“
„Sehr. Hast mich ziemlich erschreckt – wenn man hier im Dusteren hockt, kommen einem die komischsten Gedanken. Dann habe ich befürchtet, dass gleich jemand die Tür aufreißt, Licht macht. Ist aber nicht passiert – lauter Lärm, noch dazu nachts, interessiert hier wohl keinen.“ Sie hält inne, betrachtet mich und fragt: „Hast du was rausbekommen?“
Ich sehe runter auf den Treppenabsatz, wo man im Zwielicht Schellstädters Tür erahnen kann. „Er hat gelogen. War definitiv in der Legion. Die Frage ist jetzt nur: Hat er über de Rest ebenfalls die Unwahrheit gesagt?“
Manu sieht das pragmatisch. „Wir wissen von den Kellers, dass er sie angerufen hat. Warum sollten die lügen?“
Ich nicke langsam. Vermutlich hat sie Recht. Unvermittelt packt sie mich am Arm und sagt halblaut: „Steilshoop!“
„Was?“
„Einer der Fundorte in Hamburg war hier ins Steilshoop. Da haben sie eine der Leichen gefunden – vor zwei Jahren.“
„Bist du sicher?“
Ich sehe, wie sie nickt. „Ganz sicher – deswegen kam  mir der Name auch so bekannt vor. Die Kierer hat davon geredet.“
„Okay“, sage ich gedehnt. Unschlüssig.
Manu fährt fort: „Und jetzt? Was machen wir mit der Info?“
Ruckartig erhebe ich mich. „Wir reden noch mal mit ihm.“ Ich bin schon halb die Treppe runter, als sie ebenfalls aufsteht. Halb leise ruft sie: „Luca!“
In dem Moment ist mir egal, ob sie das für eine schlaue Idee hält. Ich habe die Schnauze gestrichen voll – von Unwissenheit, von Halbwahrheiten und faustdicken Lügen. Keine Lust mehr darauf, im Dunkeln zu tappen. Ich hämmere meine Faust gegen den Lichtschalter, als könne ich so metaphorisch Licht machen.
Dann landet mein Daumen auf der Klingel – schrill überträgt sie meine Ungeduld, meine Unruhe, nach drinnen. Keine Ahnung, ob Schellstädter schon schläft, mir ist auch egal, ob er bereits besoffen ist.
Ich klingele ein zweites Mal, direkt nach dem ersten. Länger. Erwarte halb, dass rechts von mir die Nachbartür aufgeht.
Aber es ist Schellstädters, die sich öffnet. Bevor reagieren kann, drücke ich dagegen, schiebe ihn mit meinem Gewicht nach hinten. Er wehrt sich nicht – macht nur zwei Schritt nach hinten, geht leicht in die Knie. Ich erkenne die Geste – Schwerpunktverlagerung, direkt bevor man in den Gegner reingeht.
Nahkampf. Hinter mir spüre ich Manu, die im Türrahmen auftaucht. Sie ruft mit heller Stimme: „Wir wissen, dass Sie uns belogen haben.“
Er entspannt sich minimal, als wolle er hören, was sie zu sagen hat. Grollt dann: „Was schert euch das? Ich schulde euch nichts.“
„Uns nicht – aber Tiger“, sage ich. Erst hinterher wird mir bewusst, wie dämlich und pathetisch das klingt.
„Die kleine Ratte – nichts schulde ich dem“, quetscht Schellstädter hervor. Ich spüre, wie Manu sich von hinten an mich drückt, und ich weiß nicht, was mich mehr überrascht – Schellstädters Ausbruch oder der Körperkontakt mit ihr.
„Sie haben ihn also gekannt. Und Sie haben bei Kellers angerufen! Warum?“, fragt sie weiter. Ich höre ihre Stimme direkt an meinem Ohr.
„Wo ist der Drecksack? Wohin hat er sich verkrochen?“, will Schellstädter wissen und macht einen Schritt nach vorne. Automatisch spanne ich alle Muskeln an, gehe ebenfalls ein wenig tiefer. Aber Manus Nähe behindert mich.
„Was zum Teufel wollen Sie von Tiger?“, sage ich. Die eigentliche Frage, die ich wissen will, traue ich mich nicht zu stellen. Haben Sie etwas mit dem Mord an Luisa zu tun? Schaffe es nicht, diesen Worten Raum zu geben, hier, in Schellstädters Flur. Als würden sie dann zu real. „Haben Sie seinen Vater gekannt? Aus der Legion?“
Seine dichten Brauen ziehen sich zusammen. „Was hast du mit Damian zu schaffen? Keiner von euch ist es wert, in einem Atemzug mit ihm zusammen genannt zu werden.“
„Geht es darum? Um Tigers Vater? Sind Sie deswegen hinter ihm her – wegen der Geschichte mit seinem Vater?“
„Ihr versteht gar nichts“, entscheidet er und schüttelt abwertend den Kopf. Seine Haltung ist allerdings nicht mehr so aggressiv – ich habe inzwischen weniger Sorge, dass er mir gleich an die Gurgel springt. „Damian hätte einen anderen Sohn verdient – einen, der seinem Vater zur Ehre gereicht. Nicht so einen … Waschlappen.“ Schellstädter macht ein Gesicht, als würde er gleich auf seinen eigenen Teppich spucken. „Und trotzdem hat ihn sein Vater immer abgöttisch geliebt. Egal, was für ein Versager er auch sein mochte. Konnte ihn keiner von abbringen. Wäre besser gewesen, wenn er bei der Geburt krepiert wäre.“
Ein böses Gefühl beschleicht mich. „Was haben Sie mit Tiger gemacht? Wo ist er?“ Ich löse mich von Manu, mache einen Schritt nach vorne.
„Nichts! Gar nichts habe ich mit ihm gemacht. Wir haben ihn nicht gefunden, deswegen. Wo versteckt sich der Pisser?“ Schellstädter hebt leicht die Arme und macht die Schultern rund. Wir stehen kaum noch einen Meter voneinander entfernt – gleich kracht es. Ich kann seine Fahne riechen, die mir den Flur entlang entgegenkommt.
An Schellstädters Sprache würde ich nicht erkennen, dass er angetrunken ist – er spricht vollkommen deutlich. „Wenn der kleine Stricher zusammen mit seiner Mutter gestorben wäre, hätte er seinem Vater viel Ärger erspart. Dann hätte Damian sein Leben leben können.“
„Nachdem was ich gehört habe, soll sein Vater ein ziemliches Arschloch gewesen sein“, erwidere ich und verspanne mich. Ich weiß, was jetzt kommt.
Mit einem dumpfen Brüllen wirft sich Schellstädter in meine Richtung.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram