Strebergarten

Roman zum Thema Flucht/ Vertreibung

von  Mutter

Die nächsten zehn Minuten, bis Dirtys erlösendes Klingeln an der Tür ertönt, laufe ich ruhelos durch die Wohnung, rufe ohne Erfolg Manu an und halte immer wieder inne, um mich abwechselnd einen dämlichen Idioten und ein ignorantes Arschloch zu nennen.
Natürlich ist es ihre Retourkutsche. Ich nehme an, sie war fuchsteufelswild, als sie aufgewacht ist und feststellen musste, dass ich aus ihrem Bett und ihrer Wohnung geflüchtet bin wie ein Liebhaber nach einem schlechten One-Night-Stand. Da hat sie vermutlich beschlossen, es mir mit gleicher Münze heimzuzahlen. Und ich wünsche mir, dass sie so bockig ist, dass sie sogar ihr Handy ausgeschaltet hat. Aber ich kann mir nicht sicher sein. Und wage es nicht, mir vorzustellen, was für andere Gründe es haben könnte, dass sie nicht erreichbar ist.
Ich drücke auf den Summer, um Dirty reinzulassen und lehne die Wohnungstür an. Als er reinkommt, sagt er gutgelaunt: „Scheiße, riecht das gut. Habt ihr Erdbeermarmelade?“
Ich antworte nicht, sitze stumm am Tisch. In den Händen halte ich Manus Nachricht.
„Was ist los?“, fragt Dirty. Er kommt sofort runter, als er schnallt, dass irgendwas nicht stimmt.
„Manu ist weg. Sie hat nur eine Nachricht dagelassen.“ Ich gebe ihm den Zettel.
Nachdem er ihn gelesen hat, lässt Dirty ihn sinken und fragt: „Was ist das für eine Wagenburg?“
„Eine von den Toten, Martina Hauptmann, hat dort zeitweise gewohnt. Wir hatten darüber gesprochen, und dort mal umzuhören – ob irgendwer eine Verbindung zu Tiger kennt. Warum sie ausgerechnet jetzt entschieden hat, sich dort umzusehen, weiß ich nicht.“ Natürlich ahne ich den Grund, aber ich habe wenig Lust, Dirty davon zu erzählen. Er nickt, während er weiter den Zettel anstarrt. „Wollen wir hinterher? Vielleicht erwischen wir sie noch?“
Erleichtert stimme ich zu. Mir ist der Gedanke daran, dass sich der unbekannte Franzose und Manu in der gleichen Stadt aufhalten, unheimlich. Ohne dass ich dabei bin, ergänze ich gedanklich.
„Nehmen wir meinen Wagen? Den habt ihr doch wieder mitgebracht, oder?“
„Der steht um die Ecke. Aber ich würde gerne meinen Bock nehmen, dann bin ich flexibler.“
„In Ordnung, kein Problem.“ Er ist bereits auf dem Weg zur Tür, als er fragt: „Wo müssen wir hin?“
„Shit. Keine Ahnung.“ Ich denke kurz nach. „Broussard? Sodom?“
„Was haben die damit zu tun?“
„Sie hat gesprayed. So ist die Verbindung zu Tiger überhaupt entstanden. Vielleicht wissen die was.“
Dirty nickt und sieht mir zu, wie ich telefoniere. Zuerst Broussard – da geht nur die Mailbox ran. Festnetz meldet sich ebenfalls keiner. Entnervt gebe ich auf, suche Sodoms Nummer raus. Nichts. „Jede Wette, die Penner schlafen noch“, vermutet Dirty. Wahrscheinlich hat er Recht.
„Und jetzt?“ Die Ungeduld und Unruhe bereiten mir fast körperliche Schmerzen – ich will los, Manu suchen.
„Netz?“
„Was? Wovon redest du?“
„Die sind eine Wagenburg – jede Wette, über die gab’s schon was im Netz. Völlig egal, ob Unterstützer- oder Hetzberichte, aber ich bin sicher, die erwähnen, wo die Wagen stehen.“
Bevor er den Satz beendet hat, bin ich bereits auf dem Weg ins Schlafzimmer. Fahre den Rechner hoch, beobachte frustriert, wie lange der Mac braucht, um für mich da zu sein.
„Schickes Teil“, bemerkt Dirty, der hinter mir steht und den großen iMac betrachtet.
„Grafikerin“, antworte ich mit einem Schulterzucken. Das war die Antwort, die sowohl Luisa als auch Manu darauf immer gegeben hatten. Als sei es ein Naturgesetz, dass Grafiker und Grafikerinnen solche beeindruckende Macintoshs benutzen würden. War es vielleicht auch.
Endlich bin ich im Netz. Suche über Google nach ‚Strebergarten‘, ‚Wagenburg‘ und ‚Berlin‘. Werde fündig – gleich mehrere Artikel auf der ersten Seite. Ich öffne alle gleichzeitig in neuen Tabs, springe zwischen ihnen hin und her, um sie zu überfliegen.
„Treptow“, verkünde ich kurz darauf. „Direkt am Landwehrkanal.“
„An der Grenze zu Kreuzberg rüber?“
Ich nicke. „Ich weiß, wo das ist. Zu Fuß kommt man vom Görlitzer Park dahin, aber nicht mit dem Wagen. Am schnellsten kommen wir da hin, wenn wir über das Schlesische Tor fahren. Los!“ Ich mache den Rechner aus, ohne ihn herunterzufahren und springe vom Stuhl hoch.
Wenig später stehen wir unten auf der Straße. Ich habe ihm auf der Treppe  beschrieben, wie er zu fahren hat – ich habe nicht vor, auf ihn zu warten, sondern will die Schnelligkeit meines Motorrads nutzen.
Der direkteste Weg führt über die Skalitzer. Ich werfe einen Seitenblick auf den Tätowier-Laden von Wedel, als ich daran vorbeikomme. Dort sieht alles dunkel aus – keine Ahnung, ob Wedel sich noch von seinem Aufenthalt bei den Bullen oder von seiner unsanften Behandlung durch mich erholt. Eigentlich ist es mir auch egal – aber die Tatsache, dass sein Laden zu bleibt, erfüllt mich mit einer leichten Befriedigung.
Am Schlesischen schieße ich bei Orange über die Ampel, ballere Richtung Treptow runter. An Sodoms Wohnung vorbei und über die Brücke. Um mit dem Auto an die Wagenburg zu kommen, müsste ich einen Riesenbogen fahren – bis runter zu den hohen Trep-Towers und zurück. Mit dem Bike bremse ich kurz ab, um auf den Gehweg zu kommen und fahre dann den Fußgängerweg aus hellem Sand am Ufer entlang. Nicht so schnell, dass ich jemanden umfahren würde, aber so schnell, dass mehrere Leute erschrocken auf das Gras neben den Weg springen. Es geht eine kleine Anhöhe zu der Fußgängerbrücke nach Kreuzberg, zum Görlitzer Park hoch, und von dort oben sehe ich bereits die Wagenburg. Ich gebe Gas und fahre auf der anderen Seite runter, auf den Eingang zu.
Als ich den Motor abgestellt und den Helm abgesetzt habe, verliere ich plötzlich meinen Schwung. Die Wagenburg liegt seltsam still und verlassen da. Ich kann niemanden sehen, nur aus einem der metallenen Schornsteine eines Wagens steigt Rauch auf.
Zögernd gehe ich hinein – es gibt kein echtes Tor, aber die Wagen sind in einer runden Form aufgestellt, als würden sie sich nach außen gegenseitig verteidigen. Gegen Indianer – oder die Polizei. Und ein deutlicher Weg mit Spurrinnen führt durch eine breite Lücke zwischen zwei Wagen ins Innere. Auf dem Platz in der Mitte sehe ich die Reste eines riesigen Lagerfeuers, das an manchen Stellen noch leicht schwelt. Die Luft ist durchtränkt mit dem Geruch von Holzfeuern. Ich liebe diesen Duft – er erinnert mich an meine Kindheit, als wir oft Ferien in Italien gemacht haben.
Zu meiner Rechten kommt jemand aus einem der Wagen – es ist ein schlacksiger Kerl mit einer Matte aus geflochtenen Dreads, die ihm fast bis zum Hintern hängen.     
Er trägt eine lange, enganliegende Hose, deren verblichene Streifen kaum noch zu erkennen sind, die Farben bloß zu erahnen. Sein zerknittertes weißes Hemd steht offen, ich erkenne ein verblichenes keltisches Tattoo auf seiner Brust.
Am Fuße der kleinen Treppe, die zu seinem Wagen hinaufführt, hält er kurz inne. Streckt sich, drückt den Rücken durch und gähnt. Er sieht in meine Richtung, nickt. Greift sich dann einen durchsichtigen Kanister, der unter den Stufen verstaut war und geht tiefer ins Innere der Wagenburg.
Ich fühle mich plötzlich so verloren. Habe Hemmungen, ihn anzusprechen, nach Martina Hauptmann zu fragen. Dabei weiß ich gar nicht, warum. Vielleicht, weil ich so sehr das Gefühl habe, hier nicht hinzugehören. Möglicherweise ist es die runde Form, die funktioniert und Außenseiter abhält. Außenseiter wie mich.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, ob ich ihm hinterher gehen sollte, vibriert mein Handy. Halb erwarte ich, dass es Dirty ist – aber diesmal taucht Manus Name im Display auf. Ich schlucke einmal trocken und drücke auf den grünen Hörer. „Manu? Geht’s dir gut?“
Aus dem Augenwinkel registriere ich, wie der geduckte Clio auf den weichen Sand vor der Wagenburg fährt. Die Fahrertür öffnet sich, Dirty steigt aus. Er hebt die Hand, um mich zu grüßen.
Manu antwortet mit gepresster Stimme: „Ich bin bei Tiger. Er ist hier!“

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (20.08.10)
Mutter, wieso diese affigen Namen!
(Ausnahme: Martina Hauptmann, die C-Promi-like mit vollen Vor- und Zunamen genannt wird...)
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