Kälteschock

Roman zum Thema Verwirrung

von  Mutter

„Müssen wir den Arm begradigen?“, fragt sie. In ihrer Stimme kann ich weder Panik noch Hysterie erkennen – sie ist gefasster als ich.
„Ich weiß nicht genau. Rufen wir einen Krankenwagen?“
Sie denkt einen Augenblick nach, schüttelt dann vehement den Kopf. „Lass ihn uns hinfahren, das ist schneller. Er ist doch mit dem Wagen da, oder?“
„Mit dem Clio. Dann müssen wir uns aber um den Arm kümmern – so bekommen wir ihn nicht transportiert.“ Ich ziehe mir die Jacke von den Armen, um den Stoff auf die riesige Platzwunde an seinem Kopf zu drücken. Blutung stoppen.
In diesem Moment stöhnt Dirty. Bewegt den Kopf, öffnet langsam die Augen. Seine verdrehten Augen richten sich langsam auf uns.
„Scheiße, Alter, das sieht nicht gut aus“, sage ich. „Wo tut’s am meisten weh?“
Er zuckt mit den Mundwinkeln, als würde er sich an einem Lächeln versuchen. „Weiß nicht. Mein Schädel wummert zu stark.“ Mit einer leichten Drehung des Kopfes sieht er zu seiner rechten Seite rüber. Ich nehme eine ganz leichte Bewegung in der Schulter wahr. „Der ist gebrochen, oder?“
„Sieht deutlich so aus, ja.“
„Dann wird das nichts mit meinem Fight in nächster Zeit?“ Er schaut mich dabei so bierernst an, dass ich gar nicht reagiere, ihn nur anstarre. Dann lächelt er.
„Mann, mach keine Witze. Das tut mir leid.“
„Hör bloß auf mit dem Mist. Tu nicht so, als sei ich hier, weil du mich heergeschleppt hast, okay. Hilf mir  mal kurz.“ Ich fasse ihn an den Schultern an, um ihn in eine bequemere Lage zu ziehen. Aber bei dem ersten Ansatz der Bewegung schreit er auf.
„Manu, kannst du dich um den Arm kümmern?“
Sie kniet nieder und zieht sich ihr Sweatshirt aus. Knotet daraus eine behelfsmäßige Schlinge, die wir Dirty vorsichtig um den Kopf legen. Die Wunde blutet kaum noch, trotzdem lasse ich den Stoff noch dagegen gepresst. Dann sehen wir beide uns kurz an, und befördern den merkwürdig leblosen Arm vorsichtig in die Schlaufe. Dirty beißt dabei die Zähne zusammen, kann aber nicht alle Schmerzlaute drinnen behalten. Er schwitzt und sieht plötzlich totenbleich aus. „Holt den da bloß nicht wieder raus, okay, sonst falle ich euch einfach um.“
Danach ziehen wir ihn mühselig bis an Tigers Lager heran, so dass sein Oberkörper leicht anlehnt. Die Anstrengung scheint fast zu viel für ihn zu sein. „Vielleicht sollten wir doch einen Krankenwagen rufen?“, schlägt Manu vor. Ich stimme sofort zu. Sie geht, um mit ihrem Handy zu telefonieren.
Kurz darauf kommt sie zurück. „Sie kommen.“
„Was ist mit Tiger?“, frage ich. Schiebe mich auf dem Boden herum, um nach ihm zu sehen. Aufstehen erscheint mir immer noch zu gewagt – zu große Angst habe ich vor dem Schmerz.
Tiger liegt wieder auf der Seite, beide Hände auf die Ohren gepresst, als würde er sich vor seinen eigenen Schreien schützen müssen. Kein Laut ist von ihm zu hören, aber ich sehe, wie sich sein Körper mit Schluchzern schüttelt.
Manu geht zu ihm rüber, ich folge halb geduckt. Sie berührt ihn an der Schulter, aber er wirft sich zur Seite. Presst sich mit dem Rücken gegen die Wand.
„Tiger, er ist weg“, sage ich. Meine Stimme klingt so aufgeschürft wie sich mein Körper anfühlt. Er schüttelt vehement den Kopf, die Hände immer noch fest dagegen gepresst.
„Er geht nie weg. Immer ist er da – immer.“
„Wer ist der Mann?“, frage ich Tiger. Ziehe seine Hände vorsichtig vom Kopf weg, gehe mit meinem Gesicht ganz nah an seins. Wiederhole die Frage. Er weint – ungehemmt strömen die Tränen seine Wangen herab. Suchen sich die bereits getrockneten Wege ihrer Vorgänger, um sich einen Weg durch den Dreck in seinem eingefallenen Gesicht zu suchen. „Was hat er Dir getan?“
Tiger wimmert. „Er hat sie mir weggenommen. Er ist gekommen, und hat sie mir weggenommen.“
„Wen, Tiger? Wen hat er Dir genommen?“
„Matti. Sie war alles, was ich noch hatte.“
Mit etwas Kraft hebe ich seinen Kopf mit meinen Händen, so dass er mich ansehen muss. „Tiger – hat der Mann Matti umgebracht? Der Kerl, der gerade hier war und mich und Dirty angegriffen hat?“ Ich spüre sein Nicken in meinen  Händen.
Bevor ich die nächste Frage stellen kann, atme ich tief durch, um mich zu wappnen. Es schmerzt, fast muss ich husten, als eine feine weiße Linie durch meinen Brustkorb flammt. „Hat dieser Mann auch Luisa umgebracht? Ist er bei uns in der Wohnung gewesen? Als du bei uns übernachtet hat?“
Wieder das kaum sichtbare, aber fühlbare Nicken.
Für einen Moment bin ich wie erstarrt. Eingefroren. Dieser Mann, mit dem narbigen Gesicht, war in meiner Wohnung und hat meine Freundin abgeschlachtet. Und er war hier. Ich hätte die Chance gehabt, ihm das Messer ein weiteres Mal in den Bauch zu rammen. Und wieder und wieder. Hätte ihn bluten lassen können wie ein Schwein – ihn so hinrichten, wie er es mit Luisa getan hat. Aber stattdessen ist er weg. Ich habe ihn entkommen lassen. Für eine Sekunde ist der Boden unter meinen Füßen weg – ich fühle mich, als würde ich fallen.
„Wer ist er?“ Unsicher, ob ich den Satz laut gesagt oder nur gedacht habe, wiederhole ich ihn mit heiserer Stimme. Verpasse deswegen fast seine Antwort – die ebenso leise ist wie meine Frage. „Du kannst ihn nicht töten.“
„Wieso, Tiger – warum nicht?“
„Ich hab’s versucht.“ Jetzt sieht er mich an, ist voll da. Seine dunklen Augen brennen Löcher in meinen Schädel, so intensiv ist sein Blick. „Luca, ich hab’s wirklich probiert, aber es geht nicht. Niemand kann ihn töten.“
„Wie heißt der Mann, Tiger?“
Für eine Sekunde sieht es nicht so aus, als würde er antworten. Ich erwarte, dass das Licht in seinen Augen verglimmt, er zurück in seine Katatonie verfällt. Aber stattdessen rauft er sich noch einmal zusammen, schiebt seinen Kopf eine Handbreit näher an mein Gesicht heran. „Damian Lefevre.“
Durch seine französische Aussprache raffe ich nicht sofort, was er sagt. Dann fällt der Groschen. „Dein Vater? Das ist dein Vater?“
Mich immer noch mit seinem durchdringenden Blick fixierend, nickt er. Mir fallen die Worte von Le Gorille wieder ein – dass Tiger angeblich seinen eigenen Vater getötet hat. Berühre meinen Hals mit dem Zeigefinger: „Der Hals?“
Bekomme noch ein Nicken als Antwort. „Ich habe versucht, ihn mit einem Stück Blech und Draht umzubringen. Aber er wollte einfach nicht sterben.“ Seine Augen treten fast aus den Höhlen und ich kann erste Anzeichen von kichernder Hysterie in seiner Stimme hören.
Manu hockt sich neben uns, legt Tiger die Hand auf die Schulter. „Aber warum Luisa? Weswegen hat er sie umgebracht? Die anderen Frauen?“
Tiger ist schon wieder weg. Er starrt ins Leere, die Augen weit aufgerissen. Aus denen plötzlich erneut Tränen schießen. Röchelnd saugt er die Luft zwischen seinen Schluchzern in die Lungen wie ein Ertrinkender.
Irritiert und entnervt rutsche ich ein Stück weg. „Wir müssen ihn zu den Bullen bringen. Sollen die einen Psychologen auf ihn ansetzen und den ganzen Mist aus ihm herausquetschen. Ich  habe keinen Bock mehr.“
Manu nickt. Ich nehme an, sie stimmt eher dem ersten als dem zweiten Teil meiner Bemerkung zu. „Ja. Das Ganze ergibt irgendwie keinen Sinn. Ich bin mir nicht mal sicher, ob er in der Lage ist, die Wahrheit zu sagen.“
Ich überlege einen Augenblick. „Wenn ich ihn zum LKA fahre – kannst du dich dann um Dirty kümmern?“
„Klar“, antwortet sie ohne zu zögern. „Ich nehme deine Maschine – und ihr fahrt im Clio?.“ Ich nicke, zucke mit den Achseln. „Auf dem Bock kann ich ihn kaum mitnehmen.“
Manu wirft einen kritischen Blick auf den zusammengerollten Jungen. „Bist du dir sicher, dass er bei den Bullen richtig ist? Dass er das packt?“
„Probieren wir’s aus. Was soll ich sonst mit ihm machen? Ich kann ihn nicht weiter vor denen verstecken.“ Vor allem habe ich gerade keine Kapazitäten, um mir allzu große Sorgen um Tiger zu machen.
Von draußen ist Motorenlärm zu hören. Manu steht auf und sieht aus dem Fenster. „Es ist die Ambulanz“, stellt sie fest.

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