Ruhepuls

Roman zum Thema Aggression

von  Mutter

Ich schaffe es, dem Messer auszuweichen – aber nicht dem kleinen Schränkchen, das an der Wand neben der Tür zum Badezimmer steht. Hart schlage ich mit dem Schädel an der Kante auf, alles verwirbelt sich dunkel. Lefevre prallt auf mich, sein Gewicht drückt mir die Luft aus den Lungen und pumpt stattdessen flammende Agonie in meine Rippengegend. Bilde mir ein, ich höre ein trockenes Knacken - als würden weitere davon brechen.
Ich reiße den Unterarm hoch, um den Franzosen abzuwehren. Kann seinen Atem riechen. Mit einer schnellen Bewegung blocke ich seine Rechte – aber das Messer hält er in der Linken. Gerade als mir klar wird, welchen Fehler ich gemacht habe, nagelt mich ein glühend-heißer Schmerz durch die Schulter in den Dielenboden. Irgendwer kreischt.
„Die Hure muss sterben“, röchelt mir Lefevre durch zusammengebissene Zähne entgegen. Meine rechte Hand bewegt sich schwach, um ihn loszuwerden. Jede Anspannung fühlt sich an, als würden  mir gleich die Muskeln reißen wie eine zu straff gespannte Saite. Tränen laufen mir über das Gesicht, als mein Gegner sich hochwuchtet. Die eine Hand hält er mir auf den Brustkorb gepresst, stützt sich auf  – dumpfer Schmerz strahlt von dort aus in den Rest meines Körpers. Mit gespreizten Beinen steht er über mir, und ich wünschte ich hätte die Möglichkeit, ihm in den Schritt zu schlagen. Neben meinem Gesicht ragt der Griff des Messers auf und erinnert mich daran, dass ich vorerst gar nichts machen werde. Die Tränen laufen mir inzwischen aus Hilflosigkeit und Frustration über die Wangen. Er wirft mir einen letzten Blick zu und macht einen unsicheren Schritt nach hinten, um sich zu bücken. Die Ledertasche. Ihr Gewicht lässt ihn schwanken, er atmet schwer.
Mein Bauch fühlt sich feucht an. Instinktiv greife ich mit der Linken dorthin, fühle Blut. Seins, nicht meins. Aber er ist derjenige, der jetzt mit kontrollierten Schritten wie ein Betrunkener an mir vorbei Richtung Wohnzimmer geht. Mit dieser verdammten Ledertasche in der Hand.
Ich berühre das Heft des Messers, sauge die Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen ein, als der Schmerz über mich wegrollt wie tonnenschwere Brandung. Ringe darum, nicht ohnmächtig zu werden. Die Klinge steckt fest im Holz und ich bin zu schwach, um sie herauszuziehen. Der Winkel zu ungünstig. Meine blutverschmierten Hände gleiten ab. Ich probiere es weiter und versuche, die aufkommende Panik zu ignorieren. Gleich ist er im Wohnzimmer. Wo wird sich Manu versteckt haben? Schmerz durchzuckt meine Lippe – ich schmecke Blut.
Vorsichtig drehe ich den Kopf, fixiere die Waffe, die wenige Zentimeter von meinem Kopf entfernt so vollständig beherrscht. Schließe kurz die Augen und treffe eine Entscheidung.
Langsam lege ich die Hand erneut auf den Knauf. Aber diesmal ziehe ich nicht daran – ich bewege die Waffe leicht hin und her. In meinem Fleisch.
Der scharfe Schmerz, der Geschmack von Metall in meinem Mund raubt mir fast den Atem. Keuchend schnappe ich nach Luft, bevor ich weitermachen kann. Als würde ich verzweifelt in langen Zügen tauchen wollen, immer wieder aus dem Wasser nach oben brechen. Zähne zusammenbeißen, du Arschloch, denke ich. Kopf nach unten, weitermachen. Ich vergrößere die Wunde, franse, schneide, weite. Wundere mich, dass ich nicht einfach das Bewusstsein verliere, dass mein Kopf nicht kurzentschlossen das Licht ausmacht. Keinen Bock mehr hat.
Stattdessen halte ich durch und werde mit immer mehr Spiel der Klinge belohnt. Sie bewegt sich hin und her - inzwischen sogar, ohne mir maßlose Agonie zu verursachen. Endlich packe ich erneut den Griff, ziehe entschieden ein weiteres Mal daran. Das Messer kommt frei, gleitet mit einem abschließenden scharfen Schmerz aus meiner Schulter.
Mit einem Keuchen lasse ich die blutige Waffe auf den Boden fallen. Meine kraftlosen Finger krallen sich in den Teppich und sollen mir so helfen, mich herumzurollen. Dieses Mal ist der Schmerz nicht mehr als eine harmlose Welle, die ich kurz mit offenem Mund abwarte. Bis ich nicht mehr Schwarz sehe. Aus dem Rest der Wohnung höre ich einen Knall. Das Geräusch treibt mich an, aber ich rutsche ab.
Bevor ich die Kraft sammeln kann, einen neuen Versuch zu unternehmen, höre ich schnelle Schritte. Manu rennt an mir vorbei, schafft es, nicht auf mich zu treten. Ich kann ihr Keuchen hören, als sie mein Blut sieht. Aber sie hält nicht inne.
Einen Augenblick später höre ich ein schleifendes Geräusch. Der Franzose kommt. Ich will mich umdrehen, ihn daran hindern, Manu zu verfolgen. Bis ich mich auf den Rücken gedreht habe, tritt er mir gedankenlos auf das Handgelenk. Während ich sein grobes Stollenprofil gegen meine Haut und die darunterliegenden Knochen spüre, höre ich ein Knirschen. Er macht den nächsten Schritt, meine Hand kommt frei.
Mit einem Röcheln verschwindet er im Treppenhaus. Hilflos greife ich nach der Wand und dem Telefonschränkchen, um mich hochzuziehen. An der Tapete gleite ich ab, das Schränkchen schmeiße ich um. Endlich finde ich Halt - drücke mich mit der unverletzten Linken hoch und wuchte mich mit dem Oberkörper auf. Eine Drehung, auf die Unterarme. Auf die Knie. Arme aufstützen, hoch. Die Hand am Türrahmen stabilisiert mich, verschmiert großzügig Blut. Ich überwinde den Schwindel, der mich befällt, sobald ich gerade stehe.
Ich lasse sie am Rahmen abrutschen und an der Wand entlanggleiten. Die Spur meines Blutes wird schwächer wie ein Stift, dem langsam die Farbe ausgeht. Hier ist niemand mehr, ich bin alleine. Auf dem Boden in der Küche sehe ich die zerstörten Überrestes eines Stuhls. Offenbar hat sich Manu damit zur Wehr gesetzt. Die Ledertasche steht offen auf dem Boden. Als ich die Klingen und Sägen sehe, dreht sich mir kurz der Magen um. Ich muss an Luisa denken.
Und dann an Manu. Der Gedanke schiebt mich weiter in Richtung Haustür. Mit einem Stolperer breite ich die Arme aus, fange mich mit beiden Händen am Rahmen am. Schmerz durchzuckt die rechte Schulter, jagt durch meinen Brustkorb, zum Rest des Agonie-Ensembles. Aber ich bleibe zumindest aufrecht – auch wenn ich keine Ahnung habe, was ich gegen Lefevre machen soll.
Im Flur halte ich kurz inne, versuche die Geräusche meines rasselnden Atems auszublenden. Kann Gepolter über mir hören – Manu ist nach oben. Auf den Boden. Auf das Dach?
Eine Hand an der Wand, die andere fest um das Treppengeländer geklammert, schiebe ich mich höher. Zwei Treppenabsätze, jeweils zwölf Stufen. Absolute Agonie. Komme mir vor wie jemand, der in der Wüste sterbend zusammenbricht, die rettende Oase schon vor Augen.
Aber ich komme an – sehe die angelehnte Tür, die auf den Dachboden führt. Hören kann ich nichts mehr. Mit einem Ruck ziehe ich mich auf den Treppenabsatz hoch, falle mehr durch die Tür als dass ich gehe. Als ich die Leite nach oben durch die geöffnete Dachluke sehe, entfährt mir ein leiser Fluch. Ich kann nicht mehr! Gnadenlos schiebe ich den Gedanken beiseite. Wenn ich da hochkomme, geht der Zirkus ohnehin erst los. Noch einen Fight gegen Lefevre.
Fast muss ich vor Erschöpfung lachen, während ich mich Zentimeter für Zentimeter, Zoll für Zoll die alte Holzleiter hochschieben.
Kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Manu!
Oben angekommen habe ich keine Kraft mehr, die Luke weiter aufzudrücken. Stattdessen quetsche ich mich nach und nach dort durch, muss die ganze Zeit befürchten, steckenzubleiben.
Endlich liege ich japsend auf dem Dach. In mir drinnen fährt der Schmerz jauchzend Karussell. Ich muss bloß die Augen zumachen, um mich ihm hinzugeben.
Unter unendlicher Mühe mache ich die Augen auf. Sehe weiter vorne, direkt am First, die gebeugte Gestalt von Lefevre. Er bewegt sich offenbar auch nur unter Schmerzen. Diese Erkenntnis erfüllt mich mit einer gewissen Befriedigung. Aber sie hilft mir nicht auf. Hilflos liege ich weiter dort, meine Beine immer noch durch die Luke. Zwischen den Welten.
Mit zusammen gebissenen Zähnen unterdrücke ich das Bedürfnis, nach Manu zu rufen. Sie zu warnen. Vielleicht versteckt sie sich irgendwo, und ich locke den Franzosen erst auf ihre Spur. Oder auf meine, denke ich lakonisch. Er könnte vermutlich einfach rüberkommen und mich durch die Luke wieder nach unten befördern. Würde der Sturz seine dreckige Arbeit erledigen.
Gegen das helle Licht des Himmels wirkt der Söldner wie ein Scherenschnitt. Suchend sieht er sich um, bewegt sich merkwürdig langsam. Wie in Zeitlupe. Ich muss an ein Theaterstück denken, dass ich als Kind in der Schule gesehen habe. Alle Kulissen und die Figuren waren Scherenschnitte – an die scharfen Kontraste erinnere mich noch gut.
Plötzlich taucht auf der Bühne vor mir eine weitere handelnde Person auf. Ich brauche eine Sekunde, bis ich Manu erkenne, die auf einmal hinter dem Franzosen steht. In der Hand hält sie einen länglichen Gegenstand. Ein Stuhlbein?
Manus Scherenschnitt holt aus, schlägt zu. Der des Franzosen sinkt leicht in die Knie, hält sich den Schädel und die Schulter. Geht aber nicht zu Boden.
Jetzt will ich schreien, aber meine Kehle bringt nur ein Quietschen hervor. Manu macht einen Schritt an den Franzosen heran, die beiden Silhouetten tanzen.
Plötzlich befindet nur noch ein Akteur auf der Bühne – der Franzose ist verschwunden. Als hätten man seinen Scherenschnitt – schwupps – nach unten weggezogen.  Manus Silhouette stolpert mit hängenden Schultern auf mich zu. Das Stuhlbein noch in der Hand.

Im Treppenhaus ist Gepolter zu hören. Männer schreien.
Einen Augenblick später packt mich eine Hand an der Jacke, will mich runterziehen. Ich kann Wehmeier hören, verstehe aber nicht, was er sagt. Die Hand zieht nicht mehr, stützt mich. Ich lasse mich langsam nach unten gleiten, werde aufgefangen. Das Dunkel des Dachbodens umfängt mich. Körper drängen sich an mir vorbei. Meine Sicht verschwimmt.
Jemand schiebt mir seine Arme unter die Achseln, zieht mich hoch. Der Schmerz in der Schulter lässt mich aufheulen. Die Arme lassen locker, ein zweites Paar gesellt sich dazu. Vorsichtiger hilft man mir auf die Beine. Ich kann Manu nicht mehr sehen – blicke stattdessen auf eine Wand aus schwarzen Uniformen und schusssicheren Westen. Das SEK ist da.
Während ich vorsichtig vom Boden geführt werde, steigt Hysterie in mir auf. Ich schlucke sie hinunter wie einen Anfall von Übelkeit.
Jemand begleitet mich unten in die Wohnung. Mir wird ein Stuhl gegen die Knie geschoben, mit Hilfe verschiedener Hände setze ich mich vorsichtig. Fange an, nach und nach alle Systeme abzuschalten. Ohnmacht. Alles - nur um diese beschissene Agonie loszuwerden, die meinen Körper besetzt hält wie ein böser Geist.
Von Sanitätern ist die Rede. Ist einer davon meiner? „Es geht los“, sagt eine Stimme dicht an meinem Ohr. Ob Mann oder Frau kann ich nicht unterscheiden.

Während sie mich die Treppe runterbringen, frage ich nach Manu. Ich werde mich Schsch-Lauten beruhigt wie ein kleines Kind. Und wehre mich nicht – wirklich besorgt um sie bin ich nicht. Sie hat Lefevre erledigt - hat den dummen Penner einfach umgehauen. Mit einem Grinsen gehe ich auf die Ambulanz zu, wo mich ein geschäftiger Sanitäter in Empfang nimmt. Sie legen mich auf eine Bahre, fangen an, Klamotten aufzuschneiden, um an die Wunden zu kommen. Ich betrachte die Decke des Krankenwagens. Das helle Licht sieht das Ganze wie ein Kaleidoskop aussehen. Als die ersten Schmerzmittel meinen Körper fluten, drehe ich leicht den Kopf. Verändere die Perspektive - alles verschiebt sich. Mit einem Grinsen entspanne ich mich.
Plötzlich dringt Wehmeiers Stimme zu mir vor. „Alles in Ordnung?“
Mühsam hebe ich meinen Kopf von dem Polster, sehe ihn in den geöffneten Türen der Ambulanz stehen. Statt zu antworten frage ich zurück: „Alles in Ordnung?“
Er betrachtet mich lange schweigend. Seine Augen sehen müde und dunkel aus. Endlich nickt er. „Sieht so aus.“
Mit einem Lächeln lasse ich mich zurücksacken.


Anmerkung von Mutter:

Habe hier noch mal umgebaut - deswegen ist der Text ein gutes Stück länger geworden.

Liest aber eh keiner, gelle? ;)

Naja, aber der Vollständigkeit halber und so ...

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