Der Tag der Pampelmuse

Kurzprosa zum Thema Entfremdung

von  Lala

Der Tag der Pampelmuse


Er saß in der sonnenbeschienenen Küche seines Einfamilienhauses am Frühstückstisch und hörte das Sirren prall gefüllter Fahrradreifen auf Asphalt. Er sah im blank geputzten Küchenfenster, wie auf einer Kinoleinwand, Kinder mit aufgeschnalltem Schulranzen vorüberfahren, sah, wie seine eigenen drei kleinen Ferkel, sich an Tetrapakdrüsen drängten. Das Leben, das er führte, war das Leben, das er angestrebt hatte. Er hatte nicht angestrebt in Unordnung, sondern in Ordnung zu leben und er wusste, wie viel Respekt und Demut von Nöten war, ein Leben zu führen, das ordentlich ist. Die Luft zu halten, ist schwieriger, als einen fahren zu lassen. Sich die Haare zu scheiteln, disziplinierter, als sich eine Schmalzlocke in die Stirn wachsen zu lassen. Das Haus und die Familie zu halten, herkulischer, als wie ein Schwein, sich im Augias Stall breit zu machen. „Und Punkt“, dachte er, nippte an seinem frisch gebrühten Kaffee und sah wieder einen Ranzen mit Kind auf dem Rad am Fenster vorbeisirren. „Und Punkt“, wiederholte er. Es kribbelte auf seiner Haut. Er hatte Mühe, sein Verlangen nach einer Pampelmuse zu unterdrücken.


Er schaute auf die Uhr. Halb drei. Der Termin, der um vier Uhr hätte stattfinden sollen und gut und gerne zwei, drei Stunden hätte kosten können, war überraschend, als er sich gerade auf den Weg gemacht hatte, abgesagt worden. Das war einer der Momente, die ihm das Gefühl gaben, dass die Lebensspielbank ihm einen Gewinn in Form von Zeit auszahlte: unbeobachtete, anonyme Zeit.
Er könnte nach Hause fahren und diese und jene Aufgabe bewältigen und sich ein Bienchen fürs Muttiheft verdienen. Oder aber die Freiheit nutzen? Aus der Haut fahren und ein Anderer werden. Ein Anderer? Die freie Zeit tickte. Er bemerkte, dass er unwillkürlich und über Umwege in die Straßen und in die Gassen fuhr, die ihn dorthin brachten, wo er einstmals seine Neugier liegen gelassen hatte.

Die Zeit, die er gewonnen hatte, verrann. Er saß noch immer im Auto. Er war aufgeregt. Seit gut einer halben Stunde beobachtete er den Eingang auf der anderen Straßenseite. Den Eingang, in dem er damals Kontakt mit sich selbst aufgenommen hatte. „Mit mir?“, dachte er skeptisch. „Nein“, beschied er.
Eine Weile wartete er noch im Auto. Als er auf die Uhr sah, bemerkte er, dass sein Gewinn, so weit abgeschmolzen war, dass es nur noch sinnvoll war, den Rückzug anzutreten und nach Hause zu fahren. Ansonsten hätte er sich rechtfertigen müssen. Widerstrebend ließ er den Motor an und verfluchte sein Navigationssystem.


Kurz darauf hatte er begonnen, Lügengebäude zu bauen - um Zeit zu gewinnen. Es hatte kein weiteres Rubbellosglück in Form von Terminverschiebungen oder Absagen gegeben. Er selbst hatte am Schicksal drehen müssen, so, wie es jeder andere im Außendienst und im Leben auch tat: tarnen, täuschen, verpissen. Die virtuellen wie verlogenen Gebäude waren zwar auf Schwemmsand gebaut, aber die gewonnene Zeit, war die gleiche. Sie war so kostbar und verrann so schnell oder langsam wie jede andere Zeit auch. Er stand jetzt nicht mehr nur vor dem Eingang. Er folgte dem Kaninchen. War aber stets bei Zeiten wieder aus dem Bau heraus.

Manchmal, wenn er mit abgeschraubter Antenne durch die Waschstraße fuhr und nur das Prasseln des Wassers und das Drücken und Dröhnen der Rollen hörte, die seinen Wagen wieder auf Hochglanz abrubbelten, da musste er es erleiden, alleine mit sich und der Frage nach der Pampelmuse zu sein. Das waren aber nur kurze, seltene Momente. Danach lief das Vordergrundrauschen wieder. Das Radio spielte, sein Handy klingelte, er hörte Kommentare zum Zeitgeschehen, seine Stimme und aktuelle Musik.


Er saß in der Küche. Am Frühstückstisch. Die Sonne schien. Er hörte das Sirren prall aufgepumpter Fahrradreifen auf Asphalt, sah im blank geputzten Küchenfenster, das wegen der Raffgardine wie eine Kinoleinwand auf ihn wirkte, Kinder und Schulranzen vorbeifahren. Er sah seine drei, kleinen Ferkel, die sich an die künstlichen Milchdrüsen seiner Frau drängten und hatte das unmäßige Bedürfnis, eine Pampelmuse in ihr Gesicht zu drücken. So wie er es vor langer Zeit in einem James Cagney Film gesehen hatte, dessen Titel er längst vergessen hatte. Dessen Titel ihn auch nicht mehr interessierte. Er beherrschte sich.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (14.09.10)
Was für ein abgrundtief böser und verflixt gut geschriebener Text!
Die Interpunktion könnte noch mal überdacht und um ein paar Kommata erleichtert werden und die künstlichen Milchdrüsen für die drei kleinen Schweinchen irritieren ein wenig und scheinen (hier meine ich die künstlichen Milchdrüsen) mir zur Bebilderung nicht wirklich notwendig, ab und an könnte man noch mal ein bisschen rumfeilen, z.B. beim frisch und redundant "heiß" aufgebrühten Kaffee (wie soll er sonst aufgebrüht werden?), aber alles in allem war ich lange nicht mehr so gefesselt bei einem Prosatext, wie bei diesem hier. Besonders gut gefällt mir das geschickt eingeflochtene Alice-im-Wunderland-Karnickel. Eins ist sicher, Pampelmusen sind seit Kurzem ein paar Punkte in meiner Wertschätzung gefallen.

Liebe Grüße,

Sabine

 Lala meinte dazu am 15.09.10:
Hallo Isaban,

derText scheint a auf einen Nerv getroffen zu haben und das freut mich. Den Text hatte ich mal woanders eingestellt, gestern war er mir wieder eingefallen und dann habe ich  ihn ausgegraben und wie eine Hecke zusammengeschnitten. Zusammenschneiden müssen. So wie er war, konnte er nicht bleiben.

Es gibt Motive in diesem Text, die mir nach wie vor sehr gefallen: Fahrradreifen und Waschanlage. Das Alice Motiv ist neu hineingekommen. Gefiel mir besser als konkrete Situationsbeschreibungen. Ich habe nur noch das drin gelassen, wovon ich glaubte, dass es die eindringlichsten Bilder sind. Frisch, aufgebrüht und heiß, bedeutet aber Verbesserungsbedarf. Die Kommata hat der Dudenkorrektor mir auch nicht vermitteln können ;)

Verflixt gut, klingt gut, noch besser aber, dass er Dich gefesselt hat.

Danke fürs Lesen und kommentieren.

Gruß

Lala
Jack (33)
(14.09.10)
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 Isaban antwortete darauf am 14.09.10:
Was ist denn das virtuelle Leben sonst?

 Lala schrieb daraufhin am 15.09.10:
Hallo Jack,

was will das Ende vom Anfang? Suggerieren, dass es keinen Anfang gegeben hat? Kam bei Dir nicht an und ist im Zweifel nicht gut genug verfasst.
Ich muss gestehen, ich mag diese Wiederholung. Zumal ich das wiederholte Bild, die kürzeren Sätze und die endgültige Trennung von Ranzen und Kindern mag.
Der Film heißt  The Public Enemy. Das LI sollte aber das Gegenteil eines öffentlichen Feindes sein. Ein ordentlicher Mensch? Ja. Aber noch eher ein gezähmter Wolf mit drei kleinen Schweinchen, die er füttern, statt fressen muss und damit aber sein Wesen verleugnet, bzw. sich nur noch virtuell oder in Anonymität oder in einer Matrix begegnet. Texte erklären, ist wie Witze erklären. Sie werden nicht besser. Weiß ich, aber datt bricht mir auch keinen Zacken aus meinem Pappkrönchen ab.

Takeshi Mike? Ich gestehe: den kenne ich nicht. Treffer versenkt.

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Gruß

Lala

 Sylvia (14.09.10)
Hallöle Lala,

es ist eine Mammutaufgabe so ein Pampelmusen Leben zu halten...und vor allem aufrechtzuerhalten..das stößt schon sauer auf...ist wie Sodbrennen...aber manche können's genießen ohne die Miene zu verziehen.

Deine Prosa liest sich gut, wie ein Film, mit sehr anschaulichen Bildern. Mir kam immer der Gedanke Travestie. Ich denke, das trifft es auch irgendwo.

Gefällt mir sehr
lieben Gruß
Sylvia

 Lala äußerte darauf am 15.09.10:
Hallo Sylvia,

wie Du auf den Gedanken Travestie gekommen bist, ist mir rätselhaft, ja unheimlich, aber sowas in der Art steckte mal dahinter. Den Prot sah ich ursprünglich als jemanden der ausschließlich seine (Homo)-Sexualität unterdrückt und sich "verkleidet".  Hier vielleicht deutlicher erkennbar..

Danke für Dein Lesen und den Kommentar.

Gruß

Lala
Abrakadabra (41)
(16.09.10)
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 Lala ergänzte dazu am 16.09.10:
Aber so was von.

 styraxx (07.10.10)
Beinahe hätte ich gesagt, hier hält der Autor den Lesern den Spiegel vor. Doch von dem lasse ich nun ab, denn dafür ist es zu authentisch und zudem verflixt gut geschrieben. Wollte ich schon lange sagen. LG

 Lala meinte dazu am 07.10.10:
Hallo styraxx,

hat es Dir einen solchen Schrecken eingejagt? :)

Danke für Lob und Empfehlung.

Gruß

Lala
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