45. Der Knoten von Jesterfield: durchtrennt – alles auf Null? [45]

Roman zum Thema Aufbruch

von  DIE7

„Wenn nicht bald Bewegung in die Angelegenheit kommt, schaltet sich die nationale Ebene ein und wir sind den Fall los, der Bürgermeister fürchtet um sein Amt und die Stadträte wirken eher wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen – bestürmen mich mit Anrufen.“

Tarek Lavken wirkte hilflos. Die Ereignisse überschlugen sich. Von der Task-Force, die er ins Leben hatte rufen wollen, war ihm lediglich Lasche Fjord Hirnstrøm geblieben. Sein Ressort kam nicht aus den Schlagzeilen der lokalen Presse, auf nationaler Ebene erweckten die ungeklärten Morde, der Giftanschlag auf den Weihnachtsmarkt das Interesse der Medien. Zwei Kamerateams hatten sich bereits im Stadthotel einquartiert und ihre Interviewer kämmten die Stadt durch nach möglichen Informanten – wobei sie auf Seriosität keinen Wert zu legen schienen.

„Ach, Lavken“, versuchte Lasche F. Hirnstrøm den leitenden Kommissar zu ermutigen, „wir sind doch schon auf dem Weg in die richtige Richtung!“

Der Pathologe strahlte Zuversicht aus. Nach einer langen Nacht, die er mit der Obduktion der Opfer des Massakers in der Pikkolokki, einer Kaschemme im Hafen Jesterfields verbracht hatte, fügten sich ihm die ersten Teile zu einem Ganzen.

„Hirnstrøm, Hirnstrøm – haben Sie etwas Konkretes?“

„Nun, zunächst haben alle bis auf Kaufmann ein Tannenbaum-Branding.“

„Tannenbaum-was?“

„Das ist so etwas wie ein Brandzeichen, nicht viel größer als Ihr Daumennagel, Lavken. Ein kleiner Tannenbaum mit fünf Zacken, die Spitze eingerechnet.“

„Eine Bande?“

„Eher eine Sekte. Bei unseren letzten Treffen erzählte mir Frodin …“

„Frodin! Hera, ach …“ Lavken seufzte. Für ihn war ein schwerer Schlag, dass die ermittelnde Beamtin Hera Frodin spurlos von der Bildfläche verschwunden war. Nichts deutete auf ein Verbrechen hin, erste Ermittlungen hatten ergeben, dass sie eine Reisetasche gepackt und die Stadt verlassen hatte.

„ … erzählte sie mir also, dass einer der Männer um den ebenfalls verschwundenen Journalisten Unglaub …“

„Ja, Hirnstrøm, verschwunden ja, aber nicht spurlos! Unglaub verließ die Stadt Hals über Kopf, kündigte seinen Vertrag mit der Zeitung und …“

„Eee…!“

„Hirnstrøm?“

„Lassen Sie mich doch ausreden, Chef!“

„Hm.“

„Also einer dieser Männer um Unglaub, und ich meine, dass Kaufmann dieser Mann war, hatte Hera Frodin angedeutet, dass es eine Sekte gibt, die eine Art Ur-Weihnachtsmann anbetet …“

„Hirnstrøm, Lasche, werden Sie mir jetzt bitte nicht albern …“

„Eeee!“

„Und stampfen Sie auch bitte nicht noch einmal so auf, wen ich Sie unterbreche, Hirnstrøm, die Pfennigabsätze Ihrer Highheels ruinieren das Parkett!“

„Wenns a-ber doch so iii…st, Lavken“, verdrehte Hirnstrøm die Augen, klappte seine Handtasche auf, kramte ein Schminktäschchen hervor und zog den Lidstrich nach.
„Sie nennen sich Jättiten, heißt es, diese Sekte, und der Ur- Weihnachtsmann, den sie anbeten, ist eine Sagengestalt des Polarkreises, des nördlichen. Grenzüberschreitend, hauptsächlich Finnland.“

„Hirnstrøm!“ Lavken sprang so heftig aus seinem Stuhl, dass dieser hintüberkrachte, „Das ist eine Spur! Wir haben eine Spur! Genial! Ich könnte Sie …“

Lavken schaute in erwartungsvoll funkelnde Augen über einem zu einer spöttischen kirschroten Schnute verzogenen Mund.

„ … ach, lassen wir das!“

Die Schnute wurde zu kirschrotem Grinsen.

Lavken ließ sich schwer in den Lehnstuhl fallen und stütze sein Gesicht in die Hande.
„Nur haben wir damit nicht das Ding auf dem Weihnachtsmarkt geklärt, Hirnstrøm. Besteht da ein Zusammenhang?“

„Ich denke schon, Lavken. Dasselbe Branding fand sich bei den zwei Toten, die im Umfeld des Weihnachtsmarktes aufgefunden worden waren – und das vor dem Anschlag. Eine Notiz hierzu wurde mir bei dem Einbruch in meine Wohnung gestohlen.“

„Ach, ja, der Einbruch. Man stahl Ihnen Damenunterwäsche und Schuhe, nicht wahr?“

„Größe 44!“

„Hirnstrøm?“

„Größe 44 deshalb, dass Sie mir nicht auf die Idee kommen, mich mit dem Täter in der kleinen Möwe in Zusammenhang zu bringen.“

„Ach, Hirnstrøm …“

„Ja?“

„Nichts, nur, dass die Hafenbehörde heute das Präsidium informierte, dass Unbekannte in einer der letzten Nächte am Hafen Damenwäsche und Schuhe verbrannt haben müssen – man fand die Überreste den Feuers, darin verkohlte rote Pumps, Größe 44 …“

„Argh!“

„Und, noch besser ist, dass der Penner, den die Hafenbehörde aufgegriffen hatte, wohl doch keine Lügengeschichte aufgetischt hat!“

„Was, Lavken, was hat der Penner gesehen?“

„Nun, er erzählte, dass eine Gruppe von Männern die Wäsche aufgetürmt und angezündet hat, dass diese Männer rote Weihnachtsmann-Mützen trugen und rote Umhänge und dass …“ Lavken hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken, Tränen stiegen ihm in die Augen.
„ … dass die dann wie wild einem kleinen Hund nachjagten, der aus dem Gestrüpp gesprungen war und sich in ein Hosenbein verbissen hatte.“

„FUFUUU…!“ Hirnstrøm schmolz dahin. „Mein Fifi Fufu lebt und hat mich verteidigt, mein armes, tapferes Fufulinchen, mein Mädchen, fein …“ Hirnstrøm schluchzte auf: „Wo bist du, mein Fuuufuuu… “

„Hirnstrøm!“

Lasche Hirnstrøm fing sich, nicht jedoch das schwarze Rinnsal, dass von den Augen her an der Nase vorbei über die Wange lief.

„Wir haben also eine Spur, Hirnstrøm, die konkret ist! Diese Sekte hängt mit dem Giftanschlag zusammen – wie auch immer, mit dem Einbruch in Ihre Wohnung, mit den toten Schauerleuten am Hafen auch?“

„Hmnja, ich denke schon, aber schlüssig bewiesen ist es damit noch nicht, Lavken.“

„Seis drum, Hirnstrøm – wir haben eine Spur! Leider sind jetzt  alle Mitglieder der Sekte tot, erschossen in der Pikkolokki!“

„Nicht alle, denke ich!“

„Sie meinen, dass einer überlebte, Hirnstrøm?“

„Hundertprozentig sicher bin ich mir nicht, aber deutet nicht alles auf eine Auseinandersetzung innerhalb der Sekte hin?“ Hirnstrøm beugte sich verschwörerisch vor, die verlaufende Wimperntusche verlieh dem Ausdruck des Pathologen eine bizarre Note:
„So weit ich erinnern kann, hatte Kaufmann Frodin gegenüber angedeutet, dass diese Sekte eben jenen Ur-Weihnachtsmann anbetet und die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes ablehnt …“

„Was sie noch nicht zu Mördern und Giftmischern macht.“

„Klar, aber sie glauben auch daran, dass es diesen Ur-Weihnachtsmann noch gibt, in wenigen Exemplaren, am Polarkreis. Rote Riesen mit weißer Mähne, aufrechter Gang ...“

„Hirnstrøm!“

„Wenn ich’s doch sage!“

„Hirnstrøm! Wir haben eine Spur! Eine durchgeknallte Sekte. Wir können damit vor die Presse und unsere Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen! Nicht aber, wenn Sie einer Meute sensationshungriger Journalisten dieses verworrene Zeugs von roten Riesen auftischen, nein!“

„Tarek Lavken, glauben Sie mir doch!“

„Nein, Hirnstrøm! Wir haben in Jesterfield keinen äää keinen Bigfoot, keinen Yeti, nein!“

„Eher einen Jätti, Herr Lavken!“

„Ha?“

„Jätti! Schauen Sie sich das Wappen Lapplands an! Da fällt es Ihnen wie Schuppen von den Augen!“

„Ich habe keine Zeit und keine Lust, mich mit Heraldik zu beschäftigen, Hirnstrøm, ich muss jetzt dringendst eine Pressekonferenz einberufen, dass wir den Rücken freikriegen für unsere weiteren Ermittlungen!“

„Und ich, Kommissar Lavken?“

„Sie, lieber Hirnstrøm, machen sich unverzüglich auf den Weg nach Finnland und recherchieren bezüglich dieses Jättis! Ich werde das mit Ihrer Vorgesetzten, Frau Lusa, klären, machen Sie sich auf den Weg! Schließlich sind Sie doch Finnland-Kenner, haben dort ein Ferienhaus, nicht wahr?“

„Ja, am Polarkreis! Wenn ich bedenke, dass man mich von dort aus dem Urlaub nach Jesterfield zitierte, weil es ungeklärte Todesfälle am Hafen gegeben hatte …“

„Das Leben zieht manchmal wundersame Kreise, Hirnstrøm!“ Lavken erhob sich und griff noch im Aufstehen nach dem Telefon. „Sie entschuldigen mich jetzt bitte, lieber Hirnstrøm, ich muss die Pressekonferenz einberufen! Zuvor informiere ich den Polizeichef und den Bürgermeister. Machen Sie, dass Sie auf den Weg kommen, bevor jemandem in den Sinn kommt, Sie zu stoppen, aus Kostengründen oder was weiß ich – los!“

„Bin schon unterwegs!“

„Fein!“

„Nur – wer kümmert sich um Fufu? Er ist jetzt sicherlich gaaanz alleiii…n und einsam und traurig und wuffischnuffiknuffihungrig …“

„Hirnstrøm! LOS!“

„Ja, ist ja schon gut! Komm, Berta!“

Lasche Hirnstrøm nahm das Ei an sich und brach auf in den hohen Norden. Tarek Lavken ballte die Rechte zur Faust. Endlich! Endlich kam Bewegung in die Angelegenheit! Jetzt zuerst einmal den Rücken freibekommen und sich den ängstlichen Bürgermeister und die Journaille vom Hals schaffen, dann mit Volldampf das Ding um diese Sekte aufklären und im besten Fall gleich den Mörder dingfest machen.

„HA!“

Lavkens Faust krachte auf den Schreibtisch, dass die Stifte in die Luft sprangen und über den Boden titschten.

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Kommentare zu diesem Text

Raissa (57)
(20.10.10)
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 DIE7 meinte dazu am 20.10.10:
Das Waisenkind ist zur Zeit bei seinem Onkel untergekommen ... :)
hoor (22)
(20.10.10)
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 DIE7 antwortete darauf am 20.10.10:
Ach, wer je sein Lager am Fuße des Korvatunturi aufgeschlagen hatte, den schreckt nichts und abernichts auf dieser Welt! ;)

Das Ding wird jetzt solide gelandet. *finger kreuzt*
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