46. Der Jätti streift durch Jesterfield [46]

Roman zum Thema Begegnung

von  DIE7

„Kissa*, Kissa, Kissa!“
Fynn Lander rief seinen neuen Begleiter zu sich, der lauthals kläffend voraus lief und Landers Bemühen um Unauffälligkeit zunichte machte. Er bekam das weiße Fellknäuel zu packen und brachte ihn zurück in die Ruine. Doch kaum hatte er den Kleinen mit einem Hanfseil angebunden, stimmte der ein herzzerreißendes Heulen an, der Welt sein Verlassensein zu künden.
“Ja, Kleiner, da musst du jetzt durch. Schön warten!“
„Wrff!“
„Waaa…r…tennn!“
„Uuu…!“

Die Lagerstatt bereits ausgekühlt – der Jätti konnte schon einen gewaltigen Vorsprung haben und Gott weiß was angerichtet haben. Lander schlug den Kragen seiner Jacke hoch und ging wieder in Richtung Stadt. Der Hund schwieg, kaute eifrig am Strick, aber das konnte Lander nicht wissen.

In die Stadt. Warum nur in die Stadt?
Fynn fragte sich, was einen scheuen Kerl wie den Jätti, der in seiner angestammten Heimat am Polarkreis jeglichen Kontakt zu Menschen und allem, was deren Geruch an sich hatte, mied, nun in die Nähe eines Gewimmels zog, wie Jesterfield es war. Selbst jetzt, bei Nacht, herrschte noch reges Treiben in der Stadt. Der Weihnachtsmarkt kam nicht zur Ruhe, der grausige Zwischenfall hatte daran nichts ändern können. Die Städter und Besucher aus dem Umland drängten in die Gassen und Geschäfte, um während der langen Öffnungszeiten Weihnachtseinkäufe zu erledigen, und kaum, dass sie die Sachen in ihren geparkten Fahrzeugen verstaut hatten, schlenderten sie über den Markt und genossen die stimmungsvolle Atmosphäre. Fynn Lander, der vor wenigen Tagen noch in einem weit zurück liegenden Jahrhundert mit seiner Brigg durch den Pazifik pflügte, war dieses geschäftige Treiben nicht geheuer.

Nur wenige Schritte abseits der hell erleuchteten Plätze und Gassen versiegten Licht und Lärm, kam die winterliche Vollmondnacht nach und nach zur Ruhe. Den Jätti zog es zum Schimmern hin, das über der Silhouette der Stadt lag wie eine luzide Glocke, darüber Nordlichter. Er hatte die Randbezirke erreicht, strich durch verwildertes Gelände, das an einen Park anmutete und erreichte schließlich eine Straße, deren eine Seite um die vorletzte Jahrhundertwende mit dreigeschossigen Häusern bebaut worden war, Jugendstil. Aus einigen Fenstern fiel warmer Lichtschein aufs Trottoir, der Lärm des fernen Treibens der Innenstadt hatte sich zwischen den Häusern verloren.
Der Riese mit dem rot gestromten Fell und der weißen Mähne horchte mit hinters Ohr gelegter Hand – ging in die Hocke, lehnte sich an einen Baum und spähte zu den Dächern auf der anderen Straßenseite. Kaum ein Mensch zu sehen. Doch war da ein sonorer Klang voller Tiefe, der den wilden Mann in seinen Bann zog. Irgendwo oben in einer der Mansarden spielte jemand Cello. So etwas hatte der Jätti noch nie gehört. Es schien, als ob der Klang des Instruments mit den Nordlichtern über der Stadt verwoben sei und sich mit dem Schnee auf Jesterfield herabsenkte. Schnee! Es hatte zu schneien begonnen und dicke Flocken tanzten zu Boden mit der Muße eines alt gewordenen Jahres.

So fand Fynn Lander den Ausreißer an den Baum gelehnt und andächtig lauschend. Näherte sich behutsam und versuchte auszumachen, was den Jätti, diese scheue Urgewalt, in einen andächtig lauschenden Nordmann verwandelt zu haben schien. Er zögerte. Spräche er den Wildling an, spränge der vielleicht auf die Straße und zöge alle Aufmerksamkeit auf sich, andererseits war es nur ein Schritt bis ins grelle Licht der Straßenlaternen, niemand sollte auf den Jätti aufmerksam werden, das Geschrei wäre groß und sie würde ihn hetzen, jagen – und Lander hätte keine Gelegenheit mehr, ihn zurück an den Polarkreis zu bekommen, so, wie der Pflaumenkopf es ihm aufgetragen hatte. Der an den Baum gelehnt lauschende Wildling gab ein rührendes Bild. Fynn lächelte. Er war inzwischen nah genug gekommen, dass er ebenfalls den Klang des Cellos vernahm.

„So, nun weißt du, wie du ihn kriegen kannst.“

Fynn fuhr herum und blickte in die großen Augen des Pflaumenkopfs.

„Hm? Wo kommst du … ach ...“
Lander wischte mit einer fahrigen Bewegung der Hand die Frage aus dem Raum. Was der kleine Kerl wohl meinte, sollte er etwa Cello spielen?

„Warum nicht?“ Der Pflaumenkopf griff sich Fynns Hand und augenblicklich strömte angenehme Wärme den Arm hinauf, erfüllte den Seemann vom Scheitel bis zur Sohle und ließ ihm ein angenehmes Kribbeln in den Fingerspitzen.
„Das war’s auch schon, Fynn! Jetzt brauchst du nur noch ein Instrument.“

„Und ein Vehikel!“

„Und ein Vehikel. Da wird dir sicherlich noch etwas einfallen, Fynn.“

„Warum holt nicht ihr ihn? Wozu braucht ihr mich?“

„Ich brauche dich, Fynn, lass dir das gesagt - und auch meine Sorge sein.“

„Wir können von Glück reden, dass der Jätti noch nicht aufgefallen ist. Er hat bereits …“

„Weiß ich.“

„Ja, was auch nicht, Mann.“

„Die Leute, die hinter ihm her sind, fallen übereinander her und bringen sich um. Die Polizei ermittelt und ist der Sekte auf der Spur.“

„Sobald die einen Jättiten erwischen, der eingeweiht ist, erfahren sie vom Jätti, dann ist hier die Hölle los!“

„Fynn, Hölle, ich bitte dich …“

„Na, was sonst?“

„Es gibt in ganz Jesterfield nur noch einen Jättiten, Fynn, doch kann der euch, kann eurer Mission gefährlich werden. Ein eiskalter Killer, du kennst ihn bereits, hast ihn am Hafen gesehen.“

„Wie ein Killer sah der da gerade nicht aus, aber, was solls, ich kümmere mich jetzt darum, dass ich den Jätti …“
Fynn Lander stockte der Atem. Aus einem Hauseingang gegenüber löste sich die Gestalt eines Kindes und lief über die Straße, geradewegs auf den Jätti zu, der noch immer zu den Dächern hinaufschaute und den Nordlichtern darüber, denen der Klang des Cellos zu entspringen schien.

„Siehst du das?“ wandte er sich wieder zum Pflaumenkopf um und blickte ins Leere.
Klar, Monsieur macht sich aus dem Staub, wenn’s spannend wird. Das Kind, ein Junge von ungefähr sechs Jahren, hatte den Jätti erreicht und sprach ihn an:

„Wer bist du?“

Nichts. Fynn Lander fragte sich, ob er jetzt aus der Deckung kommen und versuchen sollte, die Situation zu klären, bevor etwas Schlimmes geschah. Was um Himmels Willen hatte der Knirps um diese Zeit auf der Straße zu suchen?

„Wer bist du?“

„Bist du …“
Der Kleine griff mit beiden Händen nach der Pratze des Jätti und strich über das kurze, rot schimmernde Fell, „… bist du ein, … ein - Weihnachtsriese?“

„Hm…uoh“, der Jätti löste sich aus seiner Entrückung und sah auf den Dreikäsehoch zu seinen Füßen hinab, blähte die Nüstern und nahm Witterung auf, eine vertraute Witterung, die er mit Mensch, mit Gefahr und Flucht verband. Doch dieser Mensch war kleiner als gewohnt, es schien sich um ein Junges zu handeln. Es hatte den Kopf in den Nacken gelegt, sein Atem wolkte seine Worte durch die Kälte zu ihm hinauf und er, noch erfüllt von dem Frieden, den ihm der Klang des Cellos beschert hatte, strich ihm mit der anderen Hand übers Haar.
“Brrrf…“

Fynn Landers machte sich zum Sprung bereit. Vor seinem geistigen Auge sah er schon das Blut aus dem mit kurzem Ruck entkorkten Hals des Knaben spritzen, so, wie der Jätti es mit den betrunkenen Schauerleuten gemacht hatte, die ihn in der Transportkiste am Hafen gequält hatten.

„Bist du?“
Der Junge zupfte an der behaarten Pranke, zog – und der Jätti beugte sich zu ihm hinab, dass sie sich in die Augen sahen.
„Bist du …?“
„Hmmm?“
„Na, ein Weihnachts!“
„Mooo…“
„Ja, sicher, du bist einer, aber …“
Der Jätti legte die Spitze seines Zeigefingers auf die Nase des Jungen und blies ihm seinen Atem ins Gesicht.
“ … puh, die Zähne könntest du dir putzen, Weihnachts-äää-Mann?“
Jetzt griff der Junge dem wilden Kerl in die weiße Mähne und strählte mit seinen Fingern durch die Locken:
„Ja, du bist ein Weihnachts!“
„Murfff…“

Jeden Muskel angespannt fixierte Fynn Lander die Szene. Er machte sich aufs Äußerste gefasst, die Situation war alles andere als eindeutig. Schließlich handelte es sich bei dem roten Riesen um einen scheuen, aber auch kraftvollen und unberechenbaren Wildling, der am rauen Polarkreis klarkam, nicht jedoch hier, in der Zivilisation. Jetzt war alles möglich, jeden Moment konnte die Stimmung kippen.

„Du-hu, Weihnachts?“
Der Junge hatte nun beide Arme um den Nacken des Jätti geschlungen und kraulte die Mähne.
„Vielleicht bist du der richtige, also der …“
„Mmm…“
„… der richtige Weihnachts, weil, weißt du, der, der den roten Mantel anhat und den weißen Bart und das weiße Haar, das ist nicht der Weihnachtsmann, das sagt der nur. Das ist John, Mamas Freund. Der tut nur so.“
„Ojm! Hmula maa, murmmm…“
„Hast du meinen Brief bekommen?“
„Hm.“
„Den mit dem Wunschzettel!“
Der Jätti hatte sich mit spitzen Fingern das Kind am Rücken der Jacke gegriffen und ließe ihn an Daumen und Zeigefinger vor sich hin und her baumeln.
„Hast du?“
„Hast du nicht, dachte ich mir schon …“
Der kleine Kerl breitete resignierend die Arme aus und ließ sie fallen, als sei mit seiner Hoffnung auch alle Kraft aus ihnen gewichen.
„Denn sonst wüsstest du ja, was ich mir schon all die Jahre zu Weihnachten wünsche und nie, nie, nie, nie, nie, nie“ ging der kleine Kopf hin und her „nie, nie, nie bekommen habe!“

„WAFF!“

Ein weißgraues Bündel schoss an Fynn vorbei auf das seltsame Paar zu.

„WrrrAFF! Grrrr! WIFF! WIFF! ...rrr... ÄFF!!

“Ein Hund!”
Das Gebaumel Junge an der Pratze des Jätti erwachte zu neuem Leben und zappelt vor Begeisterung:
„Ein Hund, ein Hund, ein Hund!“

Hat das Miststück doch tatsächlich den Strick durchgekaut und ist uns gefolgt! Fynn war mulmig zumute. Gleich sieht jemand aus dem Fenster nach dem Lärm und dann geht’s rund hier. Doch nichts dergleichen geschah. Behutsam stelle der Jätti das Kind zurück auf eigene Füße, der Hund sprang am Jungen hoch und bettelte.

„Ein Hund, ein lebendiger Hund!“, nahm der das Hündchen auf den Arm und ließ sich das Gesicht abschlecken.

„Mmm…“

„Danke, Weihnachts, danke!“
Der Junge warf seine Arme um den Pelz des Riesen und strahlte ihn an:
„Du HAST es gewusst und bist gekommen, höchstpersönlich und tätärätätäää ja, zu mir und hast … oh, du bist der Weihnachtsmann, der Weihnachts, der Weihnachtsmann! Danke, danke dankeschööön!“

„Peter?“
Vom Haus her eine Frauenstimme.

„Mama, schau, was …“

Da war der Jätti bereits im Gestrüpp verschwunden, das Unterholz schlug hölzern aneinander – und Fynn Lander sprang seinem Schützling nach, der in riesigen Sätzen auf dem Weg zurück zur Ruine war. So sahen die beiden nicht, wie ein glückstrahlender Junge seiner Mutter ein zappelndes weißes Malteserhündchen entgegenstreckte, sahen nicht, wie diese lächelte, seufzend mit den Schultern zuckte und mit Kind und Hund auf dem Arm ins warme Licht des Hausflurs eintauchte, das für einen kurzen Augenblick - „Der Weihnachtsmann, Mama!“ - noch den Bürgersteig flutete … und wie sie die Tür hinter sich ins Schloss zog.

Von Land her hatte ein leichter Wind eingesetzt und trieb den nun dichter fallenden Schnee vor sich her. Bald erreichten der Jätti und, mit Verzögerung, Lander die Ruine. Das Schneetreiben wurde dichter, hatte willkommenen Sichtschutz gewährt und spreitete jetzt ein weißes Tuch über die frischen Spuren des seltsamen Paars.


... to be continued ...


Anmerkung von DIE7:

*Kissa = Katze

 Cello

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