Verdorbenes Fest (2)

Erzählung zum Thema Achtung/Missachtung

von  Sanchina

Raucher dürfen sich getrost „Nichtraucher“ nennen, kaum dass sie die letzte Zigarette ausgedrückt haben. Alkoholikern ist solches nicht vergönnt. Ihnen wird eingeredet, ihre Krankheit sei unheilbar. Sie dürfen sich nur als „trockene“ Alkoholiker bezeichnen, aber nicht als „ehemalige“ Alkoholiker oder gar als „Nichtalkoholiker“. Egal, wie lange sie schon „trocken“ sind.

Edgar war so ein trockener Alkoholiker. Vor zwölf Jahren war seine Frau gestorben. Der Schmerz war so groß gewesen, dass er nicht einmal mehr mit Alkohol zu betäuben war. Edgar hatte damals ein paar Monate in einer Suchtklinik verbracht. Danach hatten ihn sein Sohn und seine Schwiegertochter aufgenommen.

Im Haus der jungen Leute bewohnte Edgar eine schmale Kammer, die weder heiz- noch lüftbar war. Anstelle eines Fensters gab es einen verglasten Schlitz, der zwar ein wenig Licht herein ließ, aber keine frische Luft.

In dieser Kammer stand ein altes Bett. Ferner gab es einen Nachttisch, einen Stuhl und einen kleinen Kleiderschrank, keinen Teppich, keine Lampe, keinen Tisch und keinen Sessel. Wenn es im Winter zu kalt wurde, konnte Opa sich ja in den Heizungskeller legen, wo er eine Matratze hatte, die ihm gehörte.

Zu seinen Geburtstagen bekam Opa Edgar seit Jahren immer einen von seiner Schwiegertochter selbst gebackenen Marmorkuchen. Weihnachten durfte er mit den jungen Leuten in deren Wohnzimmer feiern.

Trotz allem liebte der Enkel – er hieß Leon – seinen Opa. Er durfte zwar nicht in dessen Kammer gehen, damit er sich keine Läuse oder Flöhe holte; dafür durfte der Opa aber ins Kinderzimmer und mit Leon spielen.

Opa Edgar hatte weder Läuse noch Flöhe. Er hielt seine Kammer peinlich sauber und wusch sich jeden Tag an einem Ausguss unten im Keller. Doch die Schwiegertochter war der Meinung, alle Alkoholiker haben Läuse und Flöhe.

Den jungen Leuten ging es gut. Das Haus gehörte ihnen, zwei Autos standen vor der Tür und Leon bekam alles, was sich ein Kind nur wünschen kann.

Weihnachten nahte wieder einmal. Opa Edgar lauschte auf die Geräusche, die das Fernsehgerät im Wohnzimmer der jungen Leute verursachte. Da wünschte er sich ein eigenes Radio. Ein Fernsehgerät beanspruchte er ja gar nicht für sich. Aber ein Radio wäre doch schön. Doch Opa Edgar schalt sich einen Egoisten, weil er wieder nur an sich dachte. Viel wichtiger wäre es doch, wenn er Leon einmal etwas zu Weihnachten schenken könnte.

Also schlurfte Opa Edgar ins Kinderzimmer, um Leon zu fragen, was er sich wünschte. Leon zählte auf: er wollte diverse Computerspiele, ein paar Karten für sein Handy, ein Snow-Board und eine ganze Menge elektronische Geräte, für welche er Bezeichnungen gebrauchte, die der Opa gar nicht kannte.

Traurig musste Opa Edgar einsehen, dass er die Wünsche seines Enkels nicht erfüllen konnte, denn er hatte ja kein Geld.

Doch Opa Edgar hatte eine Idee. Schließlich war er selbst einmal zehn Jahre alt gewesen. Draußen lag Schnee und Leon hatte keinen Schlitten! Opa Edgar wollte Leon zu Weihnachten einen Schlitten schenken.

Die sehr kleine Rente, die der Opa erhielt, reichte gerade dafür, die Miete für die Kammer und die Kost, die er im Haus erhielt, zu bezahlen. Der Opa selbst hatte veranlasst, dass die Rente direkt auf das Konto seines Sohnes überwiesen wurde, so dass er selbst davon nichts sah. Die Wahrheit war: der Opa erhielt nicht einmal ein kleines Taschengeld. Er bekam ja alles, was er brauchte, von den jungen Leuten. Dafür machte er sich auch noch im Garten nützlich und passte auf Leon auf, wann immer er gebraucht wurde. Niemals hätte Opa Edgar es gewagt, seinen Sohn um Geld zu bitten.

Der Schlitten kostete 35 Euro. Fünf Euro besaß der Opa selbst noch; es waren seine Ersparnisse der letzten Jahre.

Opa Edgar wandte sich an seine Schwiegertochter. Er druckste lange herum, bis es aus ihm heraus brach: „Annelotte, kannst du mir dreißig Euro leihen?“
„Wofür denn?“ fragte Annelotte überrascht. „Du willst wohl endlich einmal wieder ein bisschen saufen?“

„Nein!“ beteuerte der Opa. „Ich möchte ein Weihnachtsgeschenk für Leon kaufen!“

„Das brauchst du doch nicht!“ beschied ihn Annelotte abschlägig. „Der Junge bekommt von uns doch alles, was er will.“

Am Abend erzählte Annelotte ihrem Mann, dass Opa Edgar dreißig Euro von ihr verlangt hatte.

„Gib ihm bloß nie Geld! Ich habe keine Lust darauf, dass er hier besoffen herum hängt!“ entschied Opa Edgars Sohn energisch.

Opa Edgar hing nicht besoffen, sondern zutiefst vergrämt herum. Der Schmerz darüber, dass er seinem Enkel nichts zu Weihnachten schenken konnte, überstieg bei weitem seinen Kummer darüber, ein Nichts zu sein.

„Ich bin doch kein Mensch mehr!“ murmelte er vor sich hin und wischte mit beiden Handrücken ein paar Tränen aus den Augen. „Ich bin nichts mehr! Ich bin nie etwas gewesen. Wie lange soll das noch so weiter gehen?“

Im Wohnzimmer der jungen Leute wurde der Weihnachtsbaum geschmückt. Opa Edgar war es verboten, die Stube zu betreten, weil darin Alkoholvorräte aufbewahrt wurden.

Opa Edgar schlurfte in den Keller. Er suchte nach einem Strick. Statt dessen fand er einen alten Kartoffelsack, den er in schmale Streifen schnitt. Daraus drehte er eine feste Kordel und nahm sie mit in seine Kammer.

Opa Edgars Kammer wurde von einer nackten Glühbirne erhellt. Doch an der Decke befand sich ein Haken, an dem einmal eine Laterne gehangen hatte. Opa Edgar prüfte mit Hilfe seiner Kordel, ob dieser Haken sein Gewicht aushielt.

Am Heiligen Abend ließ Opa Edgar die Beschämung, an der Bescherung teilnehmen zu dürfen, ohne zu schenken und beschenkt zu werden, noch einmal über sich ergehen. Während die jungen Leute sich ihre Päckchen überreichten und Leon sein elektronisches Spielzeug ausprobierte, sagte Annelotte: „Opa, wir haben dich doch lieb, so wie du bist!“ Leon fügte dem hinzu: „Wir brauchen doch nichts von dir, du hast doch selbst nichts.“

Da ging Opa Edgar in seine Kammer, legte sich seine Kordel um den Hals, stieg auf den Stuhl und erhängte sich.

Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages fand Annelotte den Toten. Sie floh kreischend.

Opa Edgars Sohn erschien, gefolgt von Leon. Er verschränkte beide Arme vor der Brust und sagte: „Hätte er damit nicht bis nach Weihnachten warten können?“

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (03.12.10)
Sehr traurig und hoffentlich frei erfunden. LG

 Sanchina meinte dazu am 03.12.10:
leider nicht ganz frei erfunden! Gruß, Barbara
SigrunAl-Badri (52)
(03.12.10)
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 Sanchina antwortete darauf am 03.12.10:
Danke trotzdem, liebe Sigrun
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