Unmögliche Kinder

Erzählung zum Thema Schwangerschaft/ Abtreibung

von  Sanchina

UNMÖGLICHE KINDER

Mutter Walzburga steckte ihre Nase in alles, was den Kindern gehörte. Sie kontrollierte Schultaschen und Kleiderschränke, las Briefe und Tagebücher. Manchmal tastete sie sogar die Säume von Kleidungsstücken ab, ob darin etwas eingenäht war. Unvermeidlich fand sie den Brief, den Perry an einen psychologischen Jugendberater geschrieben und nicht abgeschickt, aber auch nicht vernichtet hatte. Mit jäh aufwallendem Zorn las sie, dass Perry von Petras Missgeschick berichtete, sich große Sorgen um die Schwester machte und sich selbst vollkommen unglücklich fühlte. Als Perry – wie immer, viel zu spät – von der Schule nach Hause kam, hielt ihr Walzburga den Brief vors Gesicht. „Hast du das geschrieben?“

„Nein,“ log Perry und wandte sich ab.

Hörbar zerriss Walzburga das Papier und warf die Fetzen mit Lauten des Ekels in den Mülleimer. Perry flüchtete in ihr Zimmer. Dort kniete sich sich vor ihr Bett und betete, Petra möge überleben.

Das Wort „schwanger“ wurde nicht ausgesprochen. Es galt als unanständiges Wort. „Schwanger“ sagte man nicht. Die ganze Familie wusste ja, dass Walzburga allein das Wort schon hasste, weil sie unter ihren beiden Schwangerschaften unsäglich gelitten hatte und danach nie wieder schlank geworden war.

Und nun war empörenderweise eines der Kinder „in Umständen“! Nicht Vipi, die Älteste. Auch nicht die leichtsinnige Perry, sondern die stille, bedächtige Petra trug die Frucht eines verbotenen Aktes in sich.

Herr Distler trank sich Mut an und knöpfte sich den Verursacher vor. Er war sein bester Freund. „Dafür zahlst du!“ schrie Herr Distler, „ du wirst sämtliche Kosten tragen!“

Von Unterhalt für Mutter und Kind war nicht die Rede, sondern von den Kosten für eine Reise nach Jugoslawien und einen Klinikaufenthalt. Der beste Freund war unendlich erleichtert, denn eine Ausgabe von ein paar Tausend Mark konnte er vor seiner Frau verheimlichen, ein Kind nicht.

Distler hatte die heikle Reise bestens organisiert. Mit dem Zug sollte Petra nach Dubrovnik fahren. Dortige Kollegen ihres Vaters würden sie am Bahnhof abholen. Petra bekam einen Zettel, auf dem ihre Zugverbindungen standen. Um alles Weitere würden sich die Jugoslawen kümmern. Perry schrieb sich auf, wann die Schwester wieder in Nürnberg eintreffen würde und versprach, sie abzuholen.

Petra hatte sich gewünscht, Perry könnte sie nach Dubrovnik begleiten. Dies hatte der Vater für unnötig befunden.

„War deine Schwester denn auch dabei, als du dir den Bankert hast machen lassen?“ hatte er höhnisch gefragt. Zutiefst beschämt hatte Petra den Kopf gesenkt.


Drei Tage später wartete tatsächlich nur Perry am Bahnhof auf ihre Schwester. Die Eltern waren zu Hause geblieben. Petra trug ihr olivgrünes Kleid, beigefarbene Kniestrümpfe und Wanderschuhe. Walzburga hatte den Koffer gepackt, nicht Petra selbst.

Petra wirkte wie von Reisestaub eingehüllt. Von oben bis unten grau. Ihr aschblondes Haar, ihr dunkles Kleid, die derben Schuhe. Ihr Gesicht. Alles grau. Blutverloren sah Petra aus, ihre Schultern fielen nach vorne, ihr Blick war welk. Wandelnder Spätherbst. Kaum Licht im Gesicht. Aber sie grinste. „Es war halb so schlimm!“ rief sie Perry entgegen.

Perry streckte der Schwester beide Arme entgegen. Die Mädchen berührten einander an den Fingerspitzen. „Die Oma darf es auf keinen Fall erfahren!“ erinnerte Petra sofort.

„Ich weiß,“ antwortete Perry, „niemand darf etwas wissen.“

Dies war ein Versprechen, dass sie nichts verraten würde. Vipi wusste ja auch nichts Genaues. Doch Petra erzählte der Zwillingsschwester keine Einzelheiten von ihrer schrecklichen Reise. Nicht, wie abgrundtief peinlich die Begegnung mit Vaters jugoslawischen Kollegen gewesen war, nicht, wie höllisch schmerzhaft der Eingriff, auch nicht, dass sie seit drei Tagen nichts mehr gegessen hatte.

Später, als die Zwillinge in Petras Zimmer saßen, wagte Perry den Vorstoß und sagte: „Lass uns abhauen!“ Doch Petra war viel zu erschöpft, um Flucht zu planen.

Die beiden Mädchen entfernten sich voneinander. Jetzt spürten sie es. Allmählich trieben sie voneinander ab. Bald würde jedes seinen eigenen Weg gehen. Ohne die Zwillingsschwester. Und Perry dachte bei sich: wie leicht es doch ist, ein ungeborenes Kind zu töten. So leicht hätten wir auch getötet werden können. Dann wären wir jetzt nicht in dieser Lage.

Perry wünschte sich oft, gar nicht da zu sein. Der Umstand, dass dieses eine Mal nicht sie, sondern Petra das unmögliche Kind war, verbesserte ihre Lage nicht. Im Gegenteil. Es war ja die Zwillingsschwester, die unsäglich litt. Perry litt mit.

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Kommentare zu diesem Text

mmazzurro (56)
(14.12.10)
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 Sanchina meinte dazu am 14.12.10:
danke!
Mondscheinsonate (39)
(14.12.10)
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 Sanchina antwortete darauf am 14.12.10:
danke! - Fortsetzung folgt. Versprochen!

 Skala (17.12.10)
Allein die Zeile "Allmählich trieben sie voneinander ab" ist ein Sternchen wert!
Beeindruckt, Ranky.

 Sanchina schrieb daraufhin am 17.12.10:
Ich danke dir, RankNonsens. Gruß, Barbara

 Cassandra (19.12.10)
Das geht richtig unter die Haut.

LG
Cassandra
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