Liebespaar

Erzählung zum Thema Psychologische Phänomene

von  KayGanahl

1

Ständig ein Summton im rechten Ohr. Leichte Unsicherheit beim Gehen: das Gleichgewichtsvermögen würde wohl gleich Probleme machen. Und dann war auch noch der Blick verschwommen. Es konnte nicht mehr lang dauern? Aber was? Das war eine gute Frage, eine Frage nach der Wahrheit, die nicht leicht zu beantworten war.
Armin litt sehr unter diesen Beschwerden, zumal es auch noch andere gab, die er nicht loswerden konnte. Aber er musste fähig bleiben, zu beobachten. Das war sehr wichtig.
In diesem Raum, wo er sich aufhielt, der mit einem scheinbar endlosen Grün und Braun und über allem mit dieser gleichgültig scheinenden Sonne gefüllt war, bewegten sich Menschen wie Fremde, die nach Orientierung suchten. Die Unsicherheit beim Gehen, wie bei dem diese Menschen beobachtenden Armin, war aus der Ferne mit dem Fernglas genau zu sehen. Im saftig-einladenden Grün dieser Erde bewegten sich nun einmal Menschen wie sie. Und Menschen waren sie! Auch gab es unter ihnen welche, die ins Blau dieser Erde eintauchten, ganz leidenschaftlich. Es war das Meer, war der Himmel. Armin kannte sie! Er, jeder … man hätte auf sie neidisch sein können, doch die Einheimischen waren auf sie angewiesen, weshalb negative Gefühle ihnen gegenüber alles andere als angesagt waren. Höflichkeit und Freundlichkeit und Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit sowie Gastfreundschaft standen bei der Bevölkerung, besonders den Beschäftigten in der Dienstleistungsbranche, hoch im Kurs. So war das! Armin kannte das bestens, durchaus mochte er es nicht.

Eine und keine andere Welt: es schien die zu sein, die alle zu kennen glaubten.
Die beobachteten Touristen bewegten sich im Raum, als würden sie in ihm schon länger leben. Armin hätte sie erschießen können, doch heute hatte er nicht diese Absicht. Wenn er auch Terrorist war, so war er doch ein – so oder so – humaner Terrorist, der nicht nur irgendwelche Fremden abknallte. Er legte jetzt seine Waffe zur Seite. Hier auf dem kleinen Hügel war er vor den Blicken der da vorne wandernden Fremden sicher. Doch hinter ihm hätte jederzeit jemand auftauchen können, um ihm Probleme zu bereiten, die er nicht gebrauchen konnte, weil er noch viele Situationen wie diese hier für sich und die Bewegung, für die er tätig war, erhoffte. Die Bewegung musste siegen. Langfristig. Das Grün der Landschaft gehörte nicht Fremden, auch nicht den Wohlhabenden der Insel!
Armin verließ unauffällig und fast geräuschlos seinen Platz, wobei er es eilig hatte. In seiner Kluft sah er aus wie ein einheimischer Viehtreiber. Die Insel war dünn besiedelt. Sie war einsam gelegen. Außer dem Tourismus gab es nur die Landwirtschaft - der Tourismus war wirtschaftlich wichtig.

Fremde Geräusche, ja fremde Stimmen waren ab und zu irgendwo aus einem offenen Fenster, bei einem Busch oder an einem Strauch zu vernehmen.
Hier auf der Insel waren sie, die Touristen, in der Fremde. Es war für viele von ihnen eine zu erkundende Fremde, von der viel, möglichst viel Beeindruckendes mit nach Hause genommen werden sollte. Im Grunde ging ihnen ganz gut hier! Es durfte einem von den Genüssen, die der Tourist einfach beanspruchte, nichts vorenthalten werden. Danach sah es aber auch durchaus nicht aus.
Heute? Hier? Eine Landschaft  … das war die Natur in ihrer beeindruckenden Schönheit. Sie breitete sich vor ihnen aus. Es war sehr sonnig, und es war warm. Die Stimmung in der Gruppe war prächtig, eigentlich durfte heute nichts schiefgehen. Von Armin, der das Gewehr auf sie angelegt hatte, ahnten sie wohl nichts.


2

„Ich habe was … wen … gesehen, glaube ich … warte mal!“ sagte Linde. Sie stockte im Gehen, sah sich flüchtig um. Immer noch übte die Landschaft eine Faszination auf sie aus. Es war ihr gerade so gewesen, als hätte sie einen Mann gesehen, der mit irgend etwas auf sie zielte. Es kam schnell, ganz schnell raus: „Hast du auch den Mann da hinten gesehen?“ Begleiterin Effi lächelte nur. Sie kannte schon ein paar Schrullitäten Lindes, glaubte sie zu kennen. Effi ging vorneweg und scherte sich nicht besonders um die Gefühle Lindes, die ihr überspannt vorkam. Effi wollte was vom Leben haben, besonders jetzt, da sie mitten in ihrem alljährlichen Unterwegs diese Insel touristisch erkundete und Glücksgefühle haben wollte.
„Die Linde … die Linde!“ brachte sie dann noch heraus. Linde stand noch da: die Flüchtigkeit ihrer Blicke entstand aus ihrer angstvollen Stimmung, die sich einfach nicht legte.
„Hier stimmt was nicht!“ sagte Linde.
„Na toll … da haben wir wieder was“, gab Effi von sich und ging schneller. Sie ließ Linde hinter sich.
Linde war eine der fremden Personen hier, eine der Touristinnen, fühlte sich aber nicht fremd. Die Natur umfing sie mit Wärme. Menschen wie die auf der Insel waren ihr ganz lieb, sie schloss sie in ihr Herz, immer mehr von ihnen, immer weiter in ihr Herz, bis sie dann leider etwas enttäuscht feststellte, dass ihr Herz zu klein war für die vielen Menschen.

Die Linien waren gezogen worden, … Lämmer kamen in einer größeren Herde an ihnen vorüber. Effi und Linde standen da und betrachteten die Tiere, versuchten schnell, zwecks Fotografierens die Apparate zu zücken. Es misslang? Aber nein, zwei Fotos gelangen in der Eile.
Effi: „Hast du das!?“
Linde: „Klaro!“ Linde fand das Fotografieren eigentlich bescheuert, aber sie brauchte Fotos, um ihrem Ehemann zu Hause Beweise für ihren wichtigen touristischen Aufenthalt zu liefern.
Linien? Was für Linien? Die Insel hatte ihre behördlich Zuständigen für die Straßen. Die weißen Linien wurden von Angestellten der zuständigen Insel-Behörde professionell hergestellt und weiterhin ausgebessert, wenn ein paar Typen wie Effi und Linde sich etwas herausnahmen und sie verschmutzten, nur weil sie mal wandern oder spazieren wollten. Die Insel war ja so schön!


3

Es war der Donnerstag in der folgenden Woche. Die kleine Marina des Dorfes war blau, ich auch. Wir hatten Wichtiges zu erledigen. Das Dorf war belebt, was zu diesem Zeitpunkt am Tag nicht ungewöhnlich war. Immer hatten wir Sorge, einen Fehler zu begehen. Und das heutige Wichtige? Sicherlich war es ein Quell von möglichen Fehlern.
Armin, Freund Armin, das Gewehr geschultert, stolzierte vor mir her, als könnte ihn gar nichts in der Welt, unserer Insel-Welt, beunruhigen. Er war unser am weitesten fortgeschrittener Aktivist: wir liebten ihn. Es gab bisweilen ein Opfer zu viel, ein überflüssiges Opfer, so dass wir ihn ermahnen mussten, viel kritischer bei der Wahl der Zielobjekte zu sein. Dasselbe galt für die Methoden der Ausführung von Aufträgen, die wir – besser gesagt: die Leitung der Bewegung, für die wir tätig waren - ihm allerdings nach wie vor nicht vorschreiben wollten. Er war ein kalter, berechnender Mensch, trotzdem liebten wir ihn – war, ehrlich, irgendwie skrupellos - , trotzdem liebten wir ihn! Es ängstigte mich um unserer heroischen Sache auf der Insel willen, dass wir einen wie ihn brauchten, doch er war in der Auftragsausführung fähig, zuverlässig und vieles mehr.
Neuerdings berichtete er von seltsam unerklärlichen Beschwerden, die er hatte. Er sagte, dass man ihn mental steuern würde. Auch fühlte er sich beobachtet. Überall! Immer! Zugegeben, dass fanden wir nicht gut. Kurz wurde er als Ausführender in Frage gestellt, dann ging es aber wie gewohnt weiter … die Feinheiten der menschlichen Psyche gingen uns nichts an, Kenntnisse und Erkenntnisse in diesem diffizilen Bereich hätten uns allzu sehr belastet …

Armin sah sich jetzt nach mir um, meinte: „Cool heute. Das wird für uns ein Unternehmen, von dem die Insel lange sprechen wird! Ich freue mich sehr!“
Ich: „Wir müssen schweigen!“ – Ab und zu kam es mir so vor, als würde ein Dorfbewohner misstrauisch werden. Man blickte uns durchaus manchmal kritisch, ja auch misstrauisch an, doch niemals wurden wir wirklich verdächtig beäugt. Unsere Geheimnisse waren noch Geheimnisse. Ich war mir dessen ziemlich sicher. Die Maßnahmen unserer auf der Insel bekannten Bewegung trafen in der Öffentlichkeit fast ausschließlich auf Missbilligung, wir wussten aber, dass manche der Inselbewohner insgeheim mit uns sympathisierten.
Weiter ging es jetzt an der kleinen Marina, wir versorgten uns gegenseitig mit freundlicher Zuwendung, durchaus persönlich, war er doch auch mein persönlicher Freund, was gemäß den Statuten der Bewegung unter Aktivisten eigentlich nicht sein durfte, weshalb auch dies ein Geheimnis war. Und wir versorgten uns immer wieder mit Zigaretten. Das Paffen nahm auch jetzt wieder kein Ende mehr.
Direkt vor der kleinen Marina in unserem „Luxus-Dorf“, wie wir unser Heimatdorf nannten, blieben wir stehen und schauten uns die prachtvollen Bauten an, die ihr eine Zierde waren. Ein paar teure Boote und sogar Yachten lagen vor Anker. Insgesamt war das hier alles klein, aber doch luxuriös-beschaulich. Wir hatten unsere reichen Dörfler. Und wir hatten unsere weniger reichen Touristen aus fernen und fernsten Ecken der Erde!

Eine Herde mit Lämmern zog hinter uns vorbei ins Dorf, vielleicht zum Marktplatz, der von normalerweise gut frequentierten Cafés und Restaurants umgeben war. All die Touris. All die Geldausgeber. All die Naturschänder.
„Gehen wir!“ forderte ich Armin auf. Er lächelte mich freudig an.
„Gern!“ entgegnete er mir, getragen von positiven Emotionen. Er wollte nicht hier bleiben. Wahrscheinlich war ihm heute nicht danach, aus politischen Gründen irgendeinem fremden Menschen zu schaden.
Und wir gingen von der kleinen Marina fort. Die Lämmer! Ach, die Lämmer! Sie erinnerten uns an die vielen Dorfbewohner, die sich dem Tourismus kampflos ergeben hatten, weil er ihnen den Lebensunterhalt sichern half. An sich konnten wir sie verstehen, aber wir durften alles nicht lassen, wie es war. Die Verhältnisse waren insgesamt von Übel. Armin streichelte sein Gewehr, ich aber wollte derartiges gar nicht sehen. Den Lämmern dieser Herde folgten wir, dann zockelten wir fast freudetrunken hinterdrein, umarmten uns während des Gehens.
Seltsam, dachte ich. Wie kommt es zu dieser emotionsgeladenen Stimmung?
„Wir haben doch nichts getrunken, Armin!“
„Nee!“ sprach er. Die Herde zog mit uns am Marktplatz vorbei durch das ganze Dorf, das an diesem Tag keinen ungewöhnlichen Eindruck machte. Es war zur Mittagszeit. Die Bewohner saßen auf den Treppenstufen ihrer Häuser, auf niedrigen Mauern, hielten sich bei ihren geparkten Autos auf. Manche saßen auch auf Balkonen und betrachteten weiß Gott was, hoffentlich nicht uns. Die Touristen in ihrer Buntheit der Kleidung und Sprachen saßen überwiegend am Marktplatz und speisten, berichteten und erzählten einander von ihren Urlaubserlebnissen.


4

Am Freitag. Linde saß im Schneidersitz auf dem Gras an der Straße nahe dem Kernkraftwerk. Das Kernkraftwerk war ihr eine Augenweide.
„Wie schön!“ entfleuchte es ihr. Effi schüttelte den Kopf. Obgleich beide das bäurische Inselvolk auf den Feldern und Straßen kaum richtig zur Kenntnis nahmen, wussten sie sich auf dem unterentwickelten Land, -längst waren lächerliche Vorstellungen, auch Vorurteile von einer existierenden Idylle auf dieser Insel verflogen.
„Hier ist es gar nicht schön … alles Schein-Idylle, in jeder Hinsicht!“ erwiderte Effi säuerlich.
Linde: „Es ist doch auch noch schön …!“
Effi: „Auf diese Schönheit kann ich verzichten! Die machen alles kaputt hier!“
Linde: „Das ist Unsinn, die … die bemühen sich immerhin, noch etwas von der Natur zu erhalten. Die Insel hat noch viel Schönheit.“
Effi: „Bemühe du dich um den richtigen Blick auf die Tatsachen!“
Linde: „Willst du mich ermahnen, Effi?“
Effi: „Allerdings! Du bist zu oft blind für die Tatsachen!“
Linde: „Du kennst mich doch erst seit kurzem, seit wir uns zufällig in der Marina getroffen haben – vor ein paar Tagen …“
Effi: „Du bist blind! Es gibt auf der Insel eine Widerstandsbewegung gegen die Verderbnis … auf der Insel …“
Linde: „Widerstandsbewegung?“
Effi: „Ja!“

Effi gab mit ihren Äußerungen Linde einen Wink mit dem Zaunpfahl: sie sagte damit ganz einfach: wir müssen, ja wir müssen.
„Was?“ fragte Linde. Effi guckte zu Boden. Ein Regenwurm kroch zu ihren Füßen über den Asphalt. Ihn hätte sie gern getötet, aber ließ es sein, denn Linde wäre in Trauer ausgebrochen. In Effis Augen war sie ein Fühlchen, dem man nicht viel zutrauen durfte. Sie war eine normale Touristin, die auf der Insel herumspazierte, als würde sie Scheuklappen tragen.
„Wir müssen!“ sagte Effi. Das war sehr aussagekräftig. Effi, dachte Linde, wollte endlich wieder in ihr Bett zurück, denn sie war bewegungsfaul, desinteressiert an Land und Leuten, an der sie umgebenden Naturlandschaft sowieso, überhaupt ein gleichgültiger und kalter Mensch, niemand, der ihr, Linde, viel bedeuten konnte. Und Linde stöhnte auf. Ihr war kalt. Die Sonne lächelte müde vom Himmel herunter, und ihr war durchaus kalt! Effi zerrte sie mit sich, was unverschämt war, denn beide kannten sich wirklich kaum.
Die sehr feuchte Party vergangene Nacht hatte für Effi zu lange angedauert. Das dörfische Leben, das ganze Landleben – mit oder ohne Verschandelungen der Umwelt - imponierten Effi nicht. Die  - wie sie sicher war: Kriminellen oder Terroristen, jedenfalls zwielichtigen Gestalten - auf der Party in der vergangenen Nacht im kleinen Nachtclub neben ihrem kleinen beschaulichen, wenn auch etwas schmuddeligen Touristenhotel, hatten ihr arg zugesetzt. Am liebsten wollte sie heute das vergessen, was sie mitbekommen hatte, denn es war ausgenommen widerlich, so dachte sie, wagte aber nicht, Linde davon etwas zu sagen. Denn sie war für sie gar nicht für die Bewältigung ernster Problemlagen geeignet. Terror oder Tourismus: man hätte Linde, dachte Effi, nur etwas harmloses Touristisches sagen können!

Trotzdem: wirklich: Effi redete, sie konnte es nicht an sich halten: „Die … Linde, hörst du zu? … die werden die Gegend hier mit ihren Leichen pflastern wie im Spielfilm. Das ist die Realität, glaube mir. Sie sind tödlich!“
„Bitte, was hast du gesagt?“ Sie waren inzwischen weiter gegangen. Linde trug den Regenwurm in ihrer Rechten und bewunderte ihn geradezu, was Effi beobachten musste und am liebsten geheult hätte.
„Ich …“
„Bitte, Effi?“ – Effi hielt an. Sah Linde in die Augen. Die glotzte ihren Wurm in der offenen rechten Hand an. Und Effi setzte sich wieder in Gang.
Linde: „Mir geht es besser mit den Tieren. Ich liebe sie. Ich liebe die Natur! Alles, was ich liebe, muss erhalten bleiben …!“
Und Effi, gehend: „Schön.“
„Ja.“
Effi: „Und wie schön!“
„Ja!!“
Dann wieder die unwirsche Effi: „Kannst du noch ein anderes Wort sagen?“
„Ja …“
Wieder Effi: „Aha …!“
„Genau!“ sprach Linde, ohne dass ihre Nerven strapaziert zu sein schienen. Sie war die Ruhe selbst.

Die von der Sonne überstrahlte Hügelkette. Ich war mit Armin auf Horch- und Guck-Posten.
Effi und Linde gingen jetzt über die grünen Hügel Arm in Arm spazieren, dann warf diese Linde … irgendwas weg. Ich kannte beide schon als Touristinnen aus dem kleinen Dorfhotel, wo ich als Dolmetscher und Betreuer auf Honorarbasis im Tourismus tätig war. Das war auf der Insel einer der anspruchsvolleren und besser bezahlten Jobs, aber ich bildete mir nichts auf ihn ein.
Effi hielt ich für politisch gebildet, wogegen mir Linde wie eine Träumerin und Naturanbeterin vorkam, muss ich sagen. Beide hatte ich schon mal mitten ins Dorfleben begleitet, als sie zwanglos mit Einheimischen gesellig werden wollten, außerdem hatte ich sie zum höchsten Berg der Insel mit Namen „Großer Anton“ begleitet. Beides war für mich interessant gewesen, weil ich beiläufig auch etwas über ihr Heimatland Deutschland erfuhr, was sie in nicht ganz so freundlichen Farben malten. Da hatte ich mir andere Vorstellungen gemacht. Linde war eine attraktive Mittvierzigerin, die, geradezu auf hohen schlanken Beinen über die Wege schwebend, mit ihrer Freundlichkeit anziehend auf mich wirkte. Effi jedoch gab sich, jedenfalls menschlich, verschlossen, dafür politisch interessiert. So quetschte sie mich nach den politischen Verhältnissen auf der Insel, die unter der Herrschaft eines Staates stand, aus.
Es ging mir überhaupt nicht auf die Nerven, aber ich musste ganz vorsichtig sein, weil nicht zu viel von meiner eigenen politischen Anschauung rüberkommen durfte. Was ich unter anderem in meiner Freizeit tat, musste geheim bleiben. Und einen Freund wie Armin durfte ich nicht einmal erahnen lassen …

Er befand sich direkt neben mir. Seine Beschwerden fingen wieder an, und er fragte sich mittlerweile laut, ob das alles mit ihm noch gut gehen würde angesichts der wichtigen Tätigkeit, die darin bestand, Menschen … zu … töten … und anderes. Dazu sagte ich nichts. Wenn ich das Wort Töten hörte, dann musste ich alles damit Zusammenhängende wegdenken, in mir schnellstens andere Vorstellungen abrufen, weil ich sonst noch größere Skrupel wegen unserer vielgestaltigen Betätigungen gehabt hätte als ich sie sowieso schon hatte, denn es ging im Rahmen der terroristischen Aktivitäten immer wieder darum, auch unschuldigen Menschen Schaden zuzufügen, was ich schon seit mehreren Jahren mit meinem Gewissen nicht mehr zu vereinbaren wusste. Es ging mir an die Nerven. Und es ging mir ans Gewissen! Jedoch war Freund Armin immer noch voll bei der Sache, zumindest hatte ich diesen Eindruck.
„Diese Linde, die ist irgendwie ganz drollig!“ flüsterte ich ihm zu. Armin schien nicht zu hören.
„Hörst du?“

Wie ich später von Linde gehört  hatte, ließ sie sich nach der Rückkehr vom Ausflug mit Effi  im Hotel-Doppelzimmer augenblicklich auf das zerwühlte Bett fallen und ihre zerfurchte Gesichtshaut hielt sie wieder einmal für in einem schlechten Zustand befindlich, daher ein bisschen unästhetisch. Effi platzte sich auf den ausladenden Sessel im gleichen Doppelzimmer, wo sie seit fast einer Woche mit Linde zusammen wohnte, was sie wenig erquicklich fand. Sie war als politische Aktivistin vom Kontinent eine von den Robusten, wie mir Linde später mitteilte, als ich mit ihr auf der Couch in meinem Kellerraum saß, in dem ich mit Armin nach den terroristischen Aktivitäten über Fehlerpunkte diskutierte, und wo dann eventuell auch noch ein paar Genossen hinkamen. Nicht immer verliefen solche Diskussionen konfliktfrei. Planungsgespräche fanden auch statt.
Ich führte Linde im Ansatz ganz vorsichtig in die Organisation der Bewegung ein, obwohl sie mir durchaus nicht als hundertprozentig geeignet dafür erschien. Ihre Naturverbundenheit sowie ihre Offenheit gegenüber unserer Insel insgesamt überzeugten mich aber von ihr, denn ich lernte sie in den folgenden Wochen immer besser kennen: als Mensch, als Frau.

Ich, der ich inzwischen ein weniger überzeugter Aktivist mit den geheimsten Verbindungen in alle Richtungen geworden war, brauchte einen Menschen wie sie.
Doch diese Effi stellte eine Gefahr dar, weil sie vermutlich glaubte, auf der Insel mit ihren politischen Überzeugungen ergänzend tätig werden zu können. Linde gab mir diesbezüglich einige Informationen, … Sachen, die sie als Mitbewohnerin des Doppelzimmers mitbekommen hatte. Ihre Einschätzung der Persönlichkeit Effis überzeugte mich: Effi war ungeeignet, weil sie die Insel mit ihrer Natur einfach nicht liebte. Vielleicht stand sie politisch auf der richtigen Seite, aber sonst war es mit ihr nichts.
Im Keller, wo wir in der fünften Woche von Lindes Insel-Aufenthalt oft zusammen waren, teilte mir Linde ihre vielleicht etwas naiven Vorstellungen, Wunschträume über unsere Inselheimat, wo Zucker und Honig fließen sollen, mit - wo jedoch wenig vorhanden war, real vorhanden war, was bedeutete, dass gute Nahrung, sprich Honig in die ärmlichen Gebäude, ja Hütten der Bauern und Hüter von Schafherden oder Pferdezüchtern, in diese ganze Zurückgebliebenheit einer falschen Insel-Idylle auch nur von einem Händler geliefert werden konnte.
Gern hörte ich mir ihre Träume an, hingegen musste ich sie ihr gleich darauf ausreden, weil niemand, wirklich niemand das zulassen würde, der auf unserer Insel die politische und wirtschaftliche Macht inne hatte.

Linde war noch nicht bei uns, aber sie begann immer mehr von uns zu erfahren. Vielleicht war das ein Fehler? Einweihen in die terroristischen Maßnahmen konnte ich sie selbstverständlich nicht.
Wir, die politischen Aktivisten waren die einzigen, auf die Verlass war, wenn es darum gehen sollte, zum Wohl aller auf der Insel kreativ Veränderungen herbei zu führen: sonst würde alles beim Alten bleiben. Linde begriff dies schnell.


5

Neue für unsere Bewegung zu rekrutieren war sehr problematisch,  weil nämlich mit großen Gefahren verbunden. Für mich war Linde eine Kandidatin zur Aufnahme bei uns, auch wenn unser Verhältnis wesentlich privat war.
Alles bei uns war sehr geheim. Das Geheimnissen war für unser Überleben absolut unabdingbar. Alle, die mit uns in Kontakt traten, mussten würdig sein, mit uns eventuell Geheimwissen zu teilen.
Hinsichtlich einer Linde war das sogar über alle Maßen problematisch, weil sie ja als Touristin auf der Insel zunächst lediglich eine Anwesende auf kurze Zeit war. Folglich galt: Eine Touristin wie sie auch nur in unsere Nähe zu lassen, sie dadurch beabsichtigt oder unbeabsichtigt in den Besitz von internen Kenntnissen, vielleicht gar tatsächlich von Geheimnissen kommen zu lassen, konnte nur ein Fehler sein! Jedoch ließ ich das zu. War es wirklich ein Fehler? Jedenfalls musste ich ganz genau aufpassen.

Aber es war einfach so, dass sich Linde mir und meinen Vorstellungen hinsichtlich unserer Insel-Welt hingab. Dies war schön. Ich wollte, dass es noch möglichst lange anhält. Wir genossen gewissermaßen unsere eigene Idylle-Zweisamkeit, die aber nicht lange anhalten konnte, weil es nun einmal so war, dass ich als Inselterrorist tätig war, wogegen sie als Inseltouristin ein Gast war, der normalerweise bald wieder nach Hause fliegen würde.
„Meinen Urlaub kann ich verlängern …,“ meinte sie eher überraschend eines schönen, besonders sonnigen Nachmittags, dessen Stunden sich angenehm in die Länge zogen, weil wir unsere Genüsse im Keller sitzend, hängend, liegend feierten, was mir auch aus einem sachlichen Grund nur allzu gut passte, denn ich wollte zu Armin auf Distanz gehen, mehr und mehr, mit einiger Konsequenz, musste dabei aber auf jeden Fall auf der Hut sein. Er war besonders gefährlich, ein überzeugter Terrorist! Ihn als politischen oder persönlichen Feind zu haben war brandgefährlich! Für ihn gab es seine politischen Ziele, daneben gab es kaum etwas. Eine politische oder persönliche Freundschaft galt ihm viel, so dass Verrat, politisch oder persönlich, von ihm mit Gewissheit mit größter Feindschaft und dem Ansinnen nach Rache quittiert wurde.

„Wie fühlst du dich denn jetzt, Linde?“ fragte ich mit der mir eigenen Einfühlsamkeit. Hier im Keller war es inzwischen ungemütlich geworden, da nicht geheizt werden konnte.
„Och …,“ kam es von ihr. Sie schmiegte sich an mich und ließ ihr nettes Lächeln sehen.
„Es ist schon etwas zu kühl“, sagte ich. „Hmmm …“, erwiderte sie. Und ich zog sie aus dem Keller, der mir als konspirativer Treffpunkt unserer Bewegung ungeeignet für die Intimitäten mit Linde schien. Aber ich musste mich dann auch von ihr verabschieden, nur bis zum nächsten Tag. Dann wieder im Keller?

Es dunkelte schon. Ich stand allein mitten auf der Straße und sinnierte. Der missgelaunte Armin stieß aus einer Seitenstraße kommend zu mir. Ich sah das schon. Er drückte ein paar leise Flüche gegen meine Person zwischen seinen Lippen hervor, die zu vernehmen mir keine Freude machte, aber er war eben mein Kamerad. Ich blickte ihn an.
Unsere Vernetzung mit den anderen terroristischen Gruppen unserer Bewegung war auf Grund des hohen technischen Niveaus unserer Kommunikationstechnik sehr dicht und auch zuverlässig. Und so musste ich mit Armin immer wieder auch technisch kommunizieren, hingegen war das gerade auf unserer Insel nicht immer angebracht, weil der politische Feind über eine qualitativ hochwertige, hypermoderne Abhörtechnik verfügte,  mit der er unsere Kommunikation abhören konnte. Es war schlimm für uns, dass wir nie Ruhe vor ihm hatten. Wir mussten mit absolut allem rechnen, was die feindlichen Aktivitäten gegen uns anbetraf, sicher waren wir nirgends.
Dann war da auch noch die Strahlentechnik (auf einem niedrig frequenten Trägerstahl werden Informationen transportiert), die für uns völlig unberechenbar war, weil sie gegen unseren Geist und gegen unseren Körper hoch effizient eingesetzt werden konnte, so dass sogar unsere Gedanken und Gefühle negativ beeinflussbar waren. Nie konnten wir sicher sein, nicht Opfer dieser Strahlentechnik zu werden. Die staatliche Behörde, die dafür verantwortlich war, war uns bekannt – wir hassten sie und sie hasste uns!
Manchmal dachte ich, dass man unser Denken und Handeln absichtlich total manipuliert, und zwar so, dass wir gar nicht wissen können, wie und zu welchem Zweck wir überhaupt manipuliert werden. Armin klagte seit einiger Zeit über körperliche Beschwerden, ich aber konnte an mir und in mir nichts Abweichendes feststellen. Das war mir besonders verdächtig.

Armin blickte mich auch an, natürlich kannten wir uns schon Jahre. Von seiner Seite vernahm ich nunmehr viel zu laute Schmähungen gegen meine Person, die ich nie zuvor gehört hatte und die ich seinem Sinneszustand zuschrieb: er war angetrunken. Ich war auch nicht mehr ganz nüchtern: mitten auf der Straße zogen wir unsere Kleidung aus und begaben uns in die Nacht des Tages, wie man so sagt.
Verrückt, dachte ich, was soll das?
„Arnim?! Was tun wir?“
„… Scheiße …!!!“ fluchte er, wenn auch verhalten. Dann rülpste er ziemlich laut. Noch mehr dieses Unsinns, dann würden die Fenster der Nachbarschaft aufgehen. Zu dieser abendlichen Zeit war es nicht normal, dass auf der Straße Leute laut waren. Man nahm auf der Insel gegenseitig Rücksicht. Ich zog ihn mit mir von der Straße fort.
„Pscht!“
„Wasss??“ gab er zurück.


6

Bei Linde. Sie wohnte in einem neuen Quartier außerhalb des Dorfes, was ihr, wie sie sagte, zu lebhaft, sprich zu laut war. Da konnte ich ihr nur beipflichten. Klar war immer noch, dass wir oft zusammen sein wollten, aber  wie lang unsere Beziehung noch dauern würde war ungewiss, zumal Linde laut darüber nachgedacht hatte, ihren Urlaub wesentlich zu verlängern. Der Grund dafür war ich, und eigentlich hätte ich mich darüber freuen sollen, doch ich sagte nur: „Schön.“ Das missfiel Linde sehr. Einige Stunden zog sie sich von mir zurück.
Ich besuchte sie an einem Freitag Nachmittag in D., in ihrem neuen Quartier, wo schon so mancher Tourist gelandet war, der es in unserem Dorf nicht mehr ausgehalten hatte.
„Hi, Lindchen!“
„Hi!“

Ich hielt mich für vernünftig, dachte viel über Lindes Rekrutierung zu unserer Bewegung nach, kam dann zu dem Schluss, dass ich ihr unsere Skrupellosigkeit und Rücksichtslosigkeit nicht antun konnte, weshalb Linde – so meinte ich - jetzt nicht mehr rekrutiert werden sollte, was allerdings nur mein einsamer Entschluss war. Linde kapierte sowieso nicht, was – mal abgesehen von unser beider wahrhaftigen Gefühlswelt – an Politischem geschah. Die Insel-Politik war ihr trotz ihres allgemeinen Interesses für alles auf der Insel nicht wirklich etwas, das sie verstehen konnte. Das verstand übrigens Freund Armin auch nicht, der immer noch darauf drang, jemanden zu finden, um ihn zumindest locker bei uns einzubinden, weil es „notwendig“ sei. Und ein Befehl von oben!

Ihr war es zu heiß, mir auch, - dann zog ich mit einem eleganten Schwung meine Unterhose aus, die ich in die Ecke feuerte.
„Mir ist es viel zu heiß hier!“ hörte ich sie aus dem Bad. Ich legte mich auf ihr Bett, suchte kurz nach einer besonders angenehmen Gefühlslage. Und ich meinte dann, dass der Vorhang vor dem Fenster zugezogen werden müsste. Als ich das getan hatte, dachte ich: Glaube ich auch … Vom Bett her hörte ich ihre Stimme, die mehr ein Stimmchen war. Sofort lugte ich etwas verschämt zu ihr rüber, was sie mit einem freundlichen Lächeln beantwortete. Mein Durst war enorm, also ging ich hierauf zum Kühlschrank in der Kochnische, um einen Eistee zu besorgen, der mich, uns beide trefflich erfrischen sollte.
Als ich mit dem Tetra-Pak bei ihr war: „Bist Du noch wach?“ - „Schwachkopf!“ reagierte sie sofort, das Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sie wollte mich anstarren und wälzte sich zu mir hin. Dann fiel sie mir um den Hals. Minutenlang standen wir eng umschlungen mitten auf der Matratze des Betts. Anschließend packten wir uns zusammen auf das Bett, die rote Wolldecke, die jetzt ganz überflüssig war, wurde von mir weggeschleudert. Ihr Kopf lag auf meiner Brust. Wir waren schnell eingeschlafen, und dies war es vorerst - dann schepperte es laut auf dem Flur der kleinen Pension. Sofort fuhren wir aus dem Schlaf hoch. Ich war in Alarmstellung und langte nach meiner Faustfeuerwaffe, die in der Nachttischschublade lag.
„Linde, aufgepasst!!!“ rief ich. Sie war ein Bündel Angst.
„Wie?“ fragte sie ängstlich, noch halb schlafend und ganz irritiert.
„Auf dem Flur ist was los!!!“
„Was geht uns das an!“ meinte sie nur ahnungslos.
„Sie wollen mich holen!“
„Wen, dich? Warum?“
„Darum!“
„Darum? Verstehe ich nicht! … keine Ahnung …“
„Ich werde verfolgt“, gab ich ihr zu wissen. Alsdann sprang ich aus dem Bett, Linde zog ich hinter mir her.

Ich hatte angenommen, kein widerwärtiger Störenfried (oder ein Sonderkommando der Sicherheitskräfte) würde sich zu uns wagen, aber auch hier war man als Terrorist oder als Tourist nicht wirklich gut aufgehoben. Nirgendwo war man vor dem Staat und seinen Sicherheitskräften sicher. Nirgendwo wurde man vom Staat in Ruhe gelassen. Überall waren wir, die Verfolgten, unter dem Gesetz vogelfrei. Ein Glück war es, dass es auch noch Menschen gab, nicht nur den Staat. Es schätzte uns ein Teil der Inselbevölkerung; manche der Menschen verehrten uns sogar, wenn der einen oder anderen Gemütsäußerung zu trauen war. Jedenfalls waren wir bei den einfachen Menschen als Freischärler bekannt. Hingegen für die Vertreter des Staates auf unserer Insel waren wir nur böse Terroristen! Diese üble Einschätzung mussten wir leider ertragen.

„Wer da?“ rief ich laut. Die Hotelzimmertür blieb verschlossen. Hinter ihr auf dem Flur schien sich nicht mehr viel zu regen, jedenfalls war kein Laut mehr zu hören. Vielleicht handelte es sich hier um einen Irrtum, einen Irrtum eines Überfalls von Seiten irgendeines Kommandos, das mich hopp nehmen wollte. Ich lebte schließlich in ständiger Angst vor solchen Überfällen, war deshalb so gut darauf eingestellt, indem ich hier in Position war, um mich zu wehren und Linde zu verteidigen, die nun neben mir auf dem Boden des Zimmers lag. Sie zitterte am ganzen Leib. 
Leider war weiterhin höchste Alarmbereitschaft angesagt. Irgendjemand fummelte mit  Werkzeug an unserer Tür herum. Und wir hofften, es möge alles möglichst schnell vorbei gehen. Ich rückte ein Stück weit von meiner Geliebten ab, da das Geräusch des Aufbrechens der Tür größer wurde, eine Maßnahme vorgenommen wurde, …
Vielleicht wusste die Person an der Tür, dass wir hier einem Überfall kaum länger als wenige Sekunden würden standhalten können. Die Arbeit wurde gemacht, aber sie dauerte lang. Jedenfalls ließ sie sich diese Unternehmung auch nicht von einem Menschen vermiesen, der sie per Telefon, auch während der Arbeit in dieser Situation, anrief und mit wütender Stimme sprach, was die Person an der Tür sofort mit einem verbalen Konter beantwortete.

Warum nur dauerte das alles hier so lang? Erstaunlich lang. Längst hätte man uns festnehmen müssen. Dann schlief Linde ein. Ich schlief auch ein. Das war allerdings am erstaunlichsten.


7

Auf dem Flugplatz der Insel. Zur Mittagsstunde. Ich und Linde. Armin stand hinter uns auf festen Beinen. Eine Lautsprecherdurchsage zwang uns zur vollen Aufmerksamkeit: es sei so weit, der Flug 1300 … und ich konnte nur noch lachen, denn der Geheimdienst brauchte uns in der Zentrale – mit Armin, mit meinem „Freund“, den ich im Schlepptau zu haben das Vergnügen hatte. Es war keine Flucht. Das Sonderkommando hatte uns allerdings einen Scherz gespielt …  Armin war nicht gerade gut gestimmt, in seinem Handgepäck befand sich keine Waffe.

Meine Zeit und seine Zeit als Freischärler auf der Insel waren vorbei, zumindest unterbrochen, wie wir beide wussten. Der Grund dafür war, jedenfalls glaubte ich das, unsere Erfolglosigkeit – die Erfolglosigkeit der ganzen Bewegung zur Befreiung unserer Insel. Wir hatten kurz vor unserer Abreise per elektromagnetischem Strahl in sprachlicher Form den unmittelbaren Befehl zur Rückkehr in die Hauptstadt auf dem Festland erhalten, dem wir widerspruchslos Folge leisteten, indem wir uns von der Insel ohne viel Aufhebens zu machen verabschiedeten. Mir tat das sogar gut. Linde, die bei mir bleiben wollte, fand es interessant, wenn auch unverständlich, da sie überhaupt keinen Durchblick bezüglich meiner terroristischen Aktivitäten besaß. Und Freund Armin zeigte mir seine Enttäuschung: Kein Zweifel, dass er am liebsten weiterhin Attentate auf Menschen durchgeführt hätte, aber damit war jetzt vorerst Schluss. Die Leitung der Dienstabteilung Feldagenten Insel hatte so beschlossen. Das war es dann auch.
Mich hatte es sowieso erstaunt, dass man sich in der Zentrale nicht auf die praktischen Anwendungen des elektromagnetischen Hi-Tech verließ, was kostengünstiger und auch viel gefahrloser gewesen wäre. Ionische (Im Gegensatz zu den nicht-ionischen Strahlen, die unter anderem der Fernkommunikation dienen!) Strahlen als Strahlenwaffen, die existieren, wie wir als Feldagenten wissen, da die Handhabung von solcher Waffentechnik zu unserer Ausbildung gehört, wären im Fall eines Auftrags, den wir durchzuführen hatten, besser geeignet gewesen! Die Lageeinschätzungen von einfachen Feldagenten mit niedrigem Dienstgrad geben bei der Entscheidungsfindung in der Zentrale allerdings längst nicht immer den Ausschlag, was bedauerlich ist, weil doch die Anschauung der Praxis noch am meisten bedeuten sollte.
Unverständlich war es dabei noch, dass Armin teleobserviert wurde, was er täglich zu spüren bekam, weil die niedrig frequenten gebündelten Strahlen, die ihn trafen, non-ionisierend Schmerz verursachten, er somit privat und beruflich gestört wurde, was an sich seine Leistungsfähigkeit als Feldagent  beeinträchtigte. Der Zweck dieser Maßnahme erschloss sich weder mir noch ihm.

In unserer vom zentralen staatlichen Geheimdienst unterstützten Insel-Organisation der Bewegung (Besser gesagt: von dem staatlichen Geheimdienst völlig kontrollierten Organisation der Bewegung, wie wir nur zu gut wussten!) befand sich nicht ein wirklich fähiger Agent oder Terrorist, der effizient die Insel-Institutionen, die Behörden, die Beamten und Angestellten dieser Behörden hätte einschüchtern können. Um Einschüchterung ging es nämlich in den letzten Jahren, da wir unsere terroristischen Aktivitäten verstärkt hatten. Armin war das wichtigste Mitglied unserer Zelle im Dorf, aber er war dermaßen linkisch in der einen oder anderen befohlenen Ausführung, dass er beim zentralen staatlichen Geheimdienst längst als Versager galt und abgeschrieben worden war.
Was man dort von mir hielt, war mir gänzlich unbekannt, doch ich glaubte zu wissen, dass es nichts Gutes sein konnte. Linde? Und Linde? Sie war ein Fragezeichen, ein doppeltes Fragezeichen. Hier, auf diesem Flugplatz stehend, beschlichen mich Ahnungen.

Diesen Flugplatz kannte ich von vielen Flügen zum Festland, und ich mochte ihn, denn er signalisierte mir stets Freiheit, die Freiheit, die ich hier auf der Insel vermisste, aber so ging es beileibe nicht jedem Insulaner.
Das Sonderkommando, das nicht das Hotelzimmer stürmte, in dem Linde und ich schliefen, hatte sich – allesamt lachend und schwätzend – vor uns im Halbdunkel des Zimmers aufgestellt, in Reih und Glied, stramm stehend. Einer winkte gar zum Scherz. Wir lagen am Boden.  Alles hier war zum schießen komisch, wahrhaftig!
In eine Romanhandlung gehört das rein, dachte ich als ich aufstand, Linde während des Aufstehens leicht umarmend, um dann endlich auf die schwarz Gekleideten zuzugehen. Ihr Leitender, der als solcher von außen an Hand seiner Uniform leicht erkennbar war, grinste mich herausfordernd an. Die bissige Ironie, die aus diesem Grinsen sprach, schüchterte mich ein. Ich ging tatsächlich auf sie zu, ganz direkt, fixierte währenddessen den Leitenden, dessen Grinsen und auch Feixen ich kaum ertragen konnte, aber ich hielt tapfer durch. Als ich mich ihm bis auf wenige Zentimeter genähert hatte, spuckte er mir ins Gesicht, was mich nicht sehr erfreute, wiewohl ich es nicht wagte, zurück zu spucken. Vielleicht überraschte ihn dies. Ich weiß es nicht. Er sah mir nach Hyäne aus, die Aas sucht, um es sich sofort einzuverleiben. Ich sah dieses Sonderkommando vor mir, konnte aber weder flüchten noch kämpfen, letzteres wäre sowieso Unsinn gewesen, eine völlig falsche Tapferkeit, die ich mir wegen meiner geliebten Linde nicht mehr leisten konnte und wollte. Linde hatte sich, als ich vor dem Leitenden stand, mitten auf das Bett gestellt und laut aufgelacht, so hämisch, so ätzend hämisch, dass ich mir hätte die Ohren zuhalten wollen, doch es ging wegen dieser Leute nicht!

Endlich hörte ich: „Wir nehmen Sie hiermit fest!“  Woraufhin von mir keine Reaktion kam.
„Kleiden Sie sich bitte sofort an! Sofort! Tun Sie das!“ Wiederum zeigte ich keine Reaktion. In diesem Augenblick war mir alles egal, ich blickte mich nach Linde um, die nackt auf dem Bett stand und laut gähnte. Was dachte sie sich bloß? Wollte sie provozieren? Oder war das eine Art Mut, den sie bewies? Dies wusste ich nicht.
Ich tat dann aber, wie mir angewiesen worden war. Das Ankleiden ging zügig vor sich. Die Zeit verschleppte ich nicht, denn das hätte sowieso nichts gebracht.


Ende



Kay Ganahl
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