Wo die Nacht beginnt

Kurzgeschichte zum Thema Nacht

von  RainerMScholz

Tod an der Hauptwache

Unbekannter Mann sprang vor S-Bahn

Ein bislang unbekannter Mann hat sich
am Mittwoch abend gegen 21.30 Uhr in der S-Bahn-Station Hauptwache vor einen einfahrenden Zug  geworfen. Der Fahrer der S3 konnte nicht mehr bremsen, und der Zug überrollte den Mann. Er
war auf der Stelle tot.
Nach ersten Angaben der Polizei war der Mann dem Zug entgegengegangen und war am Tunnel Richtung Konstablerwache vor den Zug gesprungen. Die S-Bahn blieb halb im Tunnel stehen, und die Fahrgäste mußten geraume Zeit in den Waggons ausharren.

(Meldung der Frankfurter Rundschau vom 9.4.1995)

Es war eine eisige Kälte auf den Straßen, und ich war froh, in der unterirdischen Schnellbahnstation Schutz suchen zu können, um auf den Anschluss zum Flughafen zu warten, wo ich in der Nachtschicht in den Katakomben arbeite und das Gepäck der Passagiere in die Flugzeuge verladen helfe. Damit sie in die Welt fliegen können. Fort. Ich bleibe da.
Dort unten an der Station, bei den stetig summenden Rolltreppen und den ein- und ausfahrenden Bahnen, deren Metallhaut von Eis und Schnee bedeckt war, stank es nach Schweiß, muffigen Kleidern, Urin und ein wenig nach eingesessenem Kot. Menschen standen mit dicken Mänteln und leeren Gesichtern wartend herum. In den Ecken verkrochen sich die Penner, Junkies, Obdachlosen und Gestrandeten, um dort die schlimmste Kälte auszusitzen, hoffend, nicht von den Bahnpolizisten in blauer Uniform, mit den Maulkorbhunden und den langen Knüppeln am Koppel, vertrieben zu werden.
Ich versuchte abzuschalten, eine nichtssagende Miene aufzusetzen. Nicht auffallen - das oberste Gebot an öffentlichen kameraüberwachten Plätzen. In zehn Minuten würde meine Bahn auf Gleis 3 einfahren, und ich würde wie gewöhnlich an meiner Arbeitsstelle bei der Gepäckbeförderung im Bauch des Flughafens erscheinen.
Das grelle Neonlicht verwandelte die Gesichter der wartenden Passagiere in graues Blei, konturlos, zerlaufen, zu verschwommen und nichtssagend, um wirklich wahrgenommen zu werden. Wie mein Gesicht.
Eine knarrende Stimme sagte über Lautsprecher die nächste Bahn durch. S3 nach Wiesbaden über Flughafen und Mainz. Ich nahm meine Tasche auf und trat vor zur Bahnsteigkante. 21.30 Uhr. Sie war pünktlich. Die Deutsche Bahn. Das Rumpeln im Gleisstollen schwoll an, die Lichter tauchten träge aus dem Dunkel des Schachts auf. Ich sah in die Richtung, aus der die Bahn gleich ankommen musste. Dann gab es eine Bewegung, die das Bild verzerrte, vorne am Bahnsteig. Eine Gestalt in einem grauen Kapuzenpullover bewegte sich irgendwie falsch zur Menge der Menschen, falsch zum Geschehen. Eine Bewegung entgegen allen anderen. Die Person schien zu torkeln, zu schlurfen, schien sich nicht folgerichtig oder zielgerichtet vorwärts zu bewegen.
Es passierte alles in einem unmenschlichen Tempo. Irreal und unglaubhaft. Die Bahn fuhr ein, die graue Gestalt warf sich auf die Gleise und wurde von dem Fauchen des Drachens mitgeschleift, bis sie schließlich unter den kreischenden Rädern verschwand. Der Zug vollführte eine Notbremsung. Blaue Schwaden stiegen auf. Geruch_von verbranntem Gummi. Leute schrieen. Es gab eine allgemeine Vorwärtsbewegung der Menschen am Gleis. Jemand sprang auf die Gleise. Dann noch jemand. Ein Schwindel erfasste mich. War es wirklich ein Mensch gewesen? War es nicht eine - Puppe? Hätte es nicht eine Puppe sein können? Ein kurzer schwarzer Taumel im Kopf. Dann nichts mehr. Ich starrte zu dem stehenden Zug, zu dem Menschenauflauf, hörte die verwirrten, die neugierigen Stimmen. Ich wartete, dass alles einfach weiterlief, einfach so, dass nicht geschehen sei, nur ein Traum, der vorbeigehuscht war; ich wartete, dass der Zug weiterfahren würde, dass ich einsteigen und rechtzeitig zur Nachtschicht kommen könne. Doch da lag ein Mensch unter den Rädern des Zuges, der halb noch in dem schwarzen Tunnel steckte, als hätte er es nicht geschafft. Wie ein erlegtes Ungeheuer, das mit letzter Kraft versucht hatte, aus seiner Höhle zu gelangen, aus einer tödlichen Falle. Ich wartete noch lange Zeit, wie mir schien. Doch der Zug setzte sich nicht mehr in Bewegung. -
Schließlich nahm ich eine andere Bahn, die vom Hochgleis fuhr. Und ich schob meine Karte 15 Minuten nach Dienstbeginn in die Stechuhr. Eine Viertelstunde hatte es gekostet. Das war nicht viel, dachte ich und machte weiter.

© Rainer M. Scholz

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