Carla
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Stadtverlies

Text

von  Zeder

Wo stehst du?
Ich denke manchmal an dich, in dem Moment, wenn man nachts kurz vor dem Einschlafen unruhig das Kissen hin und her schiebt, den Kopf von der einen in die auf die andere Seite wendet, bis man sich irgendwann mit einem wohligen, erleichterten Seufzen mit der Position abfindet in der man gerade liegt. Genau in diesem Seufzen denke ich an dich, sage: Gute Nacht.

Ich wandle suedlich von dir in fremden Strassenlabyrinthen konstruiert aus vergangenen Produkten (ich und diese Strassen) und ich frage mich manchmal ob du vielleicht einmal genau diese Strasse entlang gehen wirst, wenn du in den Sueden kommst, mit dem dir eigenen Gang, der immer ein wenig federt, und ob du dann durch die Gullis meinen Mandelduft wie eine Makierung wahrnehmen wirst.
Als ich unsere Stadt verliess, liess ich Nichts zurueck und nahm nichts mit ausser meiner Stimme. In der ersten Stadt, die mir begegnete, summte ich an einer Strassenecke einer Katze entgegen. Da sie mir auf den Ruecken sprang spuerte ich ihre Last auf meinen Schultern, doch ich gewann an Kraft und lernte aufrecht zu gehen. Nachts in meinem Schlafsack hoerte ich ihr sanftes Schnurren nah an meinem Ohr und morgens spuerte ich ihren warmen Koerper an meinem kuehlen Nacken und ihren Geruch in meiner Nase.
Fragst du dich manchmal wo ich stehe? Ich haenge im Nichts im Weltenlabyrinth und baue Steine auf und ab.
Nun eine Geschichte:


Als Helen einmal mit zweiundzwanzig in einem Zug auf den Weg von Frankfurt nach Hause sass, sie hatte dort ihren Freund besucht, sah sie mit schlaftrunkenen Augen einen brennenden Gueterwagen auf den Nachbargleisen ihren Zug ueberholen. Ihr Kopf war an eine Metallwand gelehnt, die mit Plastik bezogen, aber dennoch nicht weich genug war um bequem sein zu koennen. Sie sah also diesen brennenden Waggon, die flammende Glut brach in die Nachtlandschaft, wie ein ploetzlicher Bildwechsel im Film. Dazu das stoerende Geraeusch von Raedern auf Gleisen, quietschendem Metall auf Metall - Helen zuckte erschrocken zurueck, doch als sie staunend ihre Augen aufriss, war es schon zu spaet: Der Waggon war aus der Landschaft verschwunden, die das Fensterloch oeffnete, das Geraeusch war in der Ferne entrueckt. Zurueck blieb das leere Zugabteil, in dem sie sass, und das seichte Summen dieses ICs mit Klimaanlage. Die ploetzliche Dunkelheit in der Landschaft liess sie nur wieder sich selbst in dem Spiegel des Glases wahrnehmen. Helen blickte in ein Gesicht aus Angst und sie spuerte diese Angst, wie sie sie noch nie gespuert hatte. Sie erlebte in diesem Moment den Zusammenbruch eines Gefuehls, welches sich seit ihrer Kindheit in ihren Koerper, ihr Herz, ihr Hirn, eingegraben hatte: Das Gefuehl von Bestaendigkeit und Sicherheit. Helen begriff: Sie sass in diesem Zug, der sie in eine Wohnung fuehrte, die ihr gehoerte, die gefuellt war mit Dingen, die sie angehaeuft hatte, doch dass diese Dinge bisher noch jedes mal vorhanden waren, als sie heimkehrte, war Zufall. Dieser Besitz, Materie wie Emotion, waren lange Holzbruecken in Abgruenden zwischen Bergen: Dem Wetter ausgesetzt, manchmal zu feucht, manchmal zu trocken, faulig und bruechig dem Wind dargelegt, leicht feuerfangend, und sie hatte sich auf diesen Bruecken bewegt wie auf festen Strassen, weil nirgends ein Warnschild angebracht war.
Nun war eine Bruecke eingestuerzt. Helen fiel in einen Abgrund als sie zitternd in dem Sitzplatz ihres Zugabteils sass, jedes abweichende Geraeusch liess sie Bilder des Leidens durchleben, Bilder des Todes, Bilder des Schmerzes, sodass sich die Minuten bis zum naechsten Bahnhof wie Stunden in die Laenge zogen. Endlich, als der Zug an Fahrt verlor, schrak Helen aus dem Sitzplatz hoch, sie sprang in den ihr fremden Bahnhof hinein und landete schwankend auf dem festen Boden. Ihr erster Fall war vorrueber.

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