Im Publikum zu Golgatha

Gedicht zum Thema Verletzlichkeit

von  Sanchina

IM PUBLIKUM ZU GOLGATHA

"Soll ich den Kelch nicht trinken?" fragte Jesus.
Wir grölten, stießen an und riefen:
"Uns schenkte man was Bess'res ein!"
Sein Reich war nicht von dieser Welt.
Hier fühlten vielmehr wir uns mächtig.
Dies demonstrierten wir durch Hohn und Spott
Und krönten jenen, der erniedrigt war.
Die Dornen verletzten seine Stirn und
Sein Gesicht war blutverschmiert.

Wir schrien: "Kreuzige! Kreuzige!"
Obwohl uns nicht nach Rache war -
Ehrlich: er hatte uns gar nichts getan.
Wir hatten nur die schiere Lust am Töten
Und Spaß an der Veranstaltung kurz vor dem Fest.
Als Täter fühlten wir uns stark;
Unverletzbar wollten wir noch werden.
Dafür war uns sein Opfer gut.

Zu Tausenden zogen wir hinaus zur Stätte,
Mit Lärm, Proviant und lachendem Geschrei.
Wir weideten uns an seiner Schwäche
Und seine Todesangst vergnügte uns.
Die Soldaten teilten und verlosten seine Kleider -
Er hing am Kreuz und schmeckte Essig -
Und dann kam auch noch seine Mutter!
Wißt ihr noch, wie die gebroch'ne Alte zu ihm hinkroch?
War das nicht köstlicher als jedes Bühnenstück?!

"Es ist vollbracht!" sprach er und
Neigte das Haupt und weg war er.
Da klatschten wir uns auf die Schenkel
Und riefen: "He, Soldaten! Gut gemacht!"
Und feierten unsere Heldentat
Bei reichlich Wein die ganze Nacht
Und wollten weiterzechen bis zum jüngsten Tag.
Nicht im geringsten fühlten wir uns schuldig.
Im Gegenteile: Macht ist Pflicht!

Dann wollten sie den Leichnam haben.
Und bitte: sie bekamen ihn!
Einer von uns rief: "Da habt ihr
Eueren Kadaver!" Und alles lachte
Und ich lachte mit. Und nun,
Gott, höre meine Beichte:
Ich war dabei auf Golgatha,
Als dein Sohn gekreuzigt wurde.
Ich war dabei und lachte mit.

Aug um Auge. Zahn um Zahn.
Dies eine Kreuz um Tausende von
Kreuzen aus Holz auf Golgatha und überall.
Das wäre wohl rechte Vergeltung:
Ein Kreuz jedem, der meint, er habe nichts getan.
Jähe Scham war's, die mich -
Viel später erst - angstzitternd auf die Knie zwang.
Dies, Gott, mußte ich endlich beichten ...
Warum lachst Du? Lachst Du?

Gott! Oh Gott! Oh Unbegreiflicher! Du lächelst ja!

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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (18.04.11)
Hut ab vor einer mutigen Schilderung des Karfreitagsgeschehens aus ungewöhnlicher Perspektive.
LG TT

 Sanchina meinte dazu am 18.04.11:
Ich danke dir! Gruß, Barbara

 Dieter Wal (14.02.13)
Glaub auch, Vater und Sohn haben Humor. Stopp, nein, ich glaube es nicht, ich weiß es. :)
(Kommentar korrigiert am 16.02.2013)
Fabi (50)
(05.07.13)
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 AlmÖhi (07.12.17)
Gerade nachdem es am Ende ein bißchen hell wird, wird es erst richtig finster. Hat etwas Erschütterndes.
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