Herr Korpus

Text

von  Zeder

Als Herr Korpus abends seine Papiere beiseite legt und aus dem Fenster auf die aufkommende Dunkelheit oder das schwindende Licht blickt, da kommt ihm, wie des öfteren in letzter Zeit, nebelartig und ohne genauen Übergang ein Traum auf, ohne das er davon wusste seine Augen geschlossen zu haben. Dabei dringt von irgendwo her aus dem Gebäude eine zarte, seltsam flötenartige Musik hervor, die ihm jedoch so vertraut scheint, als hätte er sie sein ganzes Leben gehört oder zumindest damals im Mutterleib. Sie dringt so fremdartig anmutig und sanft durch die Wände des Bürokomplexes, dass Herrn Korpus erst jetzt die allabendliche Totenstille des zwölften Stockwerks wie eine Mauer bewusst wird.
Er denkt nicht daran der Musik nachzugehen. Was er tut ist sich ein kleines Stück in seinem Sessel zurück zu lehnen und die Füße ein wenig zu entspannen, dann die Mundwinkel, dann die Fingerspitzen. Und als er bemerkt, dass die Musik langsam lauter wird, bewegt es ihn kaum, auch da die Tür zu seinem Büro sich mit einem Klicken öffnet dreht er sich nicht, blickt nicht auf. Er hätte in der Spiegelung des Fensters schon etwas erkennen können -
„Herr Korpus“, sagt eine Stimme.
„Ich weiß“, erwidert Herr Korpus sehr leise nach einer Pause.
Und Herr Korpus weiß, dass es ein Kind sein wird, dass ihn dort begrüßt, das sich nun in den Stuhl neben der Tür setzt und zurücklehnt, die Beine den Boden nicht berührend. Und nachdem er ein paar Minuten mit dich kämpft blickt er sich endlich um, um sicher zu gehen. Sein Blick streift blaue Augen, dann wieder Himmel.
„Herr Korpus“, spricht das Mädchen noch einmal.
„Warum kommst du wieder zu mir?“, fragt dieser.
Diesmal schweigt das Mädchen eine Zeit, starrt unentwegt auf Herrn Korpus Hinterkopf, legt all seine Kraft in diesen Blick hinein, sodass sich Herr Korpus unter dieser Stärke immer kleiner zu fühlen beginnt, irgendwann denkt er: Jetzt müsste ich in ihrem Alter sein, meine Füße erreichen den Boden nicht mehr, wie könnte ich so überleben.
„Ich komme nicht, um dich zu quälen“, sagt das Mädchen schließlich, Herr Korpus seufzt und seine Beine kommen wieder auf dem Boden an.
„Ich komme nur, weil du mich zu dir gerufen hast.“
„Das kann nicht sein!“, schreit Herr Korpus plötzlich, sich im Stuhl aufrichtend, die Lehne greifend. „Das kann nicht sein und selbst wenn es so wäre, dann sage ich dir jetzt: Geh und komme nie wieder!“
„Das geht nicht, Herr Korpus. Es ist leider so, dass ich kommen muss, wenn du mich rufst und du musst verstehen, dass es auch für mich nicht schön ist dir gegenüber zu treten, denn ich komme von woanders her und jedes Mal, wenn ich deinem Ruf folge, zieht mich deine Erinnerung an meinen Körper wie ein Magnet zurück, ich werde gepresst und verformt und alle Emotionen finden ihren Weg zurück und mir wird mein Herz schwer“. Das Mädchen spricht ruhig und friedlich, lächelt Herrn Korpus Hinterkopf leicht an. Sie fügt hinzu: „Nicht, dass irgendeines dieser Gefühle von Bedeutung wäre. Ich kann jetzt, aus der Distanz heraus, jedes der Gefühle enttarnen....“
„Aber ich rufe dich nicht!“, unterbricht Herr Korpus, „ich habe dich nie gerufen!“
„Das tust du mit jedem Gedanken an mich und wenn ich es dir sagen muss, Herr Korpus, jede Nacht vor dem Einschlafen denkst du an mich und deckst mich zu, jede Minute die du Stille spürst kommt dir mein Lachen in den Kopf. Und jeder Gedanke ist ein stiller Faden der aus deinem Kopf zu meiner Seele führt. Auch wenn du es so nicht verstehst, ich sage dir: Dein Gewissen lässt mich nicht in Frieden.“
Herr Korpus blickt erstaunt seine eigenen Finger an, fühlt mit seiner Hand um seinen Kopf herum, um seine Brust und dann, plötzlich, so als käme er erst jetzt zu sich, sagt er: „Dann schneiden wir diesen Faden durch! Ich werde dich völlig vergessen!“
„Das geht leider nicht, Herr Korpus, denn dazu müsstest du erst einmal akzeptieren, dass du überhaupt an mich denkst. Und dann müsstest du akzeptieren, dass du dich schuldig fühlst, dafür, dass du lebst und du müsstest dir selbst vergeben. Aber, Herr Korpus, du traust dich nicht einmal mehr meinen Namen auszusprechen.“
Er sinkt in sich zusammen als hätte er einen Schlag erfahren. „Aber wir waren doch Kinder...“ „...Auch Kinder tun Dinge, die zu anderen Dingen führen.“
„Und wenn wir nun schweigen, bis ich erwache?“
„Dann käme ich wieder.“
„Bis ich sterbe...?“ schloss Herr Korpus gedankenverloren. Sein Blick hällt an dem verschlossenen Fenster fest, seine Hand ertastet in der Tasche seinen Schlüsselbund. Offensichtlich tritt Erleichterung in sein Gesicht.
„Willst du es nicht wenigstens versuchen?“, fragt das Kind.
„Ich kann doch nun nichts mehr ändern! Nichts mehr kann ich tun!“
„Nicht für mich“, sagt das Kind.
„Ich verdiene nicht!“ Er erhebt sich aus dem Stuhl.
„Setz sich, Herr Korpus.“ Wieder schwebt eine erdrückende Stärke in der Stimme mit, doch Herr Korpus hört nicht mehr. Er zieht den Schlüsselbund aus der Tasche. Noch nie hat er das Fenster aufgeschlossen. Er probiert ein paar Schlüssel, bis er den passenden findet. Er sieht noch den Kopf des Kindes im Fenster gespiegelt, als der Wind unnatürlich stark das Fenster gegen die Wand schlägt und es ihm aus den Fingern reist. Er erschrickt und zieht die Hand zurück, muss seine Augen vor dem Wind verschließen und braucht kurz, bis er sich dem Druck gewachsen fühlt. Dann legt er seine Hände an den Fensterrahmen und hebt ein Bein hinüber. Er sitzt nun mit geschlossenen Augen und stellt sich die Welt vor. Es ist wie vom Springbrett springen, man sieht den Boden nicht, denkt er. Pötzlich dreht er sich. „Du kommst also um mich zu holen?“, sein Blick begegnet dem Mädchen.
„Das ist deine Entscheidung, Herr Korpus.“
Als Herr Korpus erwacht, weiß er zu erst nicht, wo er ist.

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