Mutter Gottes

Text zum Thema Religion

von  Rudolf

„Ich muss um sechs zu Hause sein.“

Nepomuk wusste, dass sein Freund Thomas viel strengere Eltern hatte als er. Einmal war Thomas' Mutter sogar wütend in Nepomuks Garten gestürmt und hatte ihren Sohn abgeholt. Sein Freund hatte nicht viel erzählt, aber Nepomuk war klar, dass es an jenem Abend richtig Ärger gegeben hatte. Erst Schimpfe von Thomas' Mutter und anschließend noch einen Nachschlag von seinem Vater. Seitdem achteten die beiden Freunde gemeinsam darauf, dass Thomas immer pünktlich nach Hause ging.

Sie saßen auf der Treppe, die in Nepomuks Garten führte. Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen und die Steinstufen waren angenehm warm. Rechts vom Weg sammelten Bienen Honig aus den Blüten der Taubnesseln. Summend flogen sie von Pflanze zu Pflanze. Nepomuk versuchte, ihr Sammelverhalten zu verstehen. Er konzentrierte sich auf ein und dieselbe Blüte und wollte wissen, ob sie mehrfach angeflogen wurde. Das wäre schön blöd von den Bienen, würden sie leere Blüten anfliegen. Oder brauchte es mehrere, um eine Blüte leer zu trinken? Nein, das machte auch keinen Sinn; Nepomuk hatte genau gesehen, dass eine Biene mehrere Blüten anflog, bevor sie sich auf den Rückweg zu ihrem Stock machte. Vielleicht produzierte eine Taubnessel aber auch unablässig neuen Nektar, sodass es sich für eine Biene immer lohnte, eine Blüte anzufliegen.

„Mama, wie spät ist es?“, schrie Nepomuk in Richtung des offenen Küchenfensters. Eine Armbanduhr stand auf seinem Wunschzettel ganz oben. Weder er noch Thomas hatte eine.

„Mama?!“

Die Bienenstudien waren für heute abgeschlossen.

„Halb fünf!“, kam eine entfernte Antwort.

Sie hatten noch viel Zeit.

„Habt ihr auch Religionsunterricht?“

Diese Frage gärte in Nepomuk schon lange. Thomas war katholisch und er war evangelisch. Bisher war der einzig erkennbare Unterschied, dass Thomas zum Gottesdienst ging und Nepomuk nicht, aber „katholisch“ und „evangelisch“ entschied auch darüber, wer mit wem in einer Klasse war.

„Ja, klar.“ Diese Antwort hatte Nepomuk erwartet und er legte gleich nach:

„Und was macht ihr da?“

„Wir lernen über Gott.“

„Wir auch, aber was ist bei euch anders?“

„Wir glauben an die Mutter Gottes“, kam die Antwort schnell. Thomas hatte sich die Frage offenbar auch schon gestellt.

Mutter Gottes, Nepomuks Stirn legte sich in leichte Falten. Von der hatte er in der Tat noch nichts gehört. Er wollte sich vor seinem Freund nicht so blamieren wie vor der Schulklasse, als er nicht gewusst hatte, wer die Welt gemacht hat, darum wiederholte er bedächtig:

„Mutter Gottes.“

Die Frage in der Wiederholung war kaum wahrzunehmen, aber wahre Freunde verstehen sich ohne viele Worte.

„Soll ich sie dir zeigen?“

Damit hatte Nepomuk nicht gerechnet. Die Falten auf seiner Stirn wurden für den Bruchteil einer Sekunde tiefer und lösten sich dann auf. Thomas war für eine Überraschung immer gut.

„Geht das? Jetzt?“, Nepomuk war neugierig.

„Klar, komm mit.“

In der Wärme der sommerlichen Nachmittagssonne machten sich die Freunde auf den Weg. Thomas führte Nepomuk an den Haselnusssträuchern hinten im Garten vorbei, sie kletterten durch das Loch im Zaun und weiter ging es über den Trampelpfad, der auf den Schlossberg führte. Sie gingen nicht weit und erreichten die winzige Kapelle, die im Schatten einer viele Hundert Jahre alten Linde stand. Knorrige Äste breiteten sich schützend über dem weiß getünchten Häuschen aus. Das schwarze, spitzgiebelige Schieferdach ragte nicht viel höher als ein Erwachsener. Solange Thomas und Nepomuk sich kannten, hatten sie die Kapelle Muttergotteshäuschen genannt. Nie war Nepomuk auf die Idee gekommen, dass hier eine Mutter Gottes sein könnte, aber an diesem Nachmittag fügte sich wieder ein Stück Welt für den Jungen zusammen.

Das war nicht einfach eine bunt angemalte Holzpuppe, die dort als Staub sammelnder Zierrat stand.

„Das ist die Mutter Gottes“, verkündete Thomas stolz dem Freund etwas so Wichtiges zeigen zu können.

Sie starrten in das Halbdunkel der winzigen Kapelle, von deren hinterer Wand die kleinkindgroße Figur einer schönen Frau sanft in ihre Richtung blickte.

Nepomuk glaubte fast zu verstehen, dass Thomas die Holzfigur wirklich für die Mutter Gottes hielt. Aber nein, so doof war er nicht. Es war natürlich nur ein Abbild. Oder war sie es doch? Mit einem Mal fiel Nepomuk auf, wie feierlich sie dort stand. Sie trug ein altmodisches, wallendes Gewand. Vor ihre Füße hatte jemand wunderschöne, frische Sommerblumen gestellt. Daneben brannte eine dicke Kerze. Schwere, schwarz lackierte Eisengitter machten unmissverständlich klar, dass sie etwas Wertvolles schützten. Das Gesicht der Statue strahlte mütterliche Erhabenheit aus. Sie blickte durch die Jungen in die Ferne. In ihren Armen lag ein Baby mit merkwürdig erwachsenen Gesichtszügen.

In Nepomuks Kopf begannen, die Gedanken zu mahlen.

„Wer hat die hierhin gestellt?“, fragte er halb flüsternd. Die Mutter Gottes brauchte nicht zu wissen, dass er mal wieder keine Ahnung hatte.

„Das weiß ich auch nicht“, flüsterte Thomas zurück.

„Was ist das für ein Baby, das sie auf dem Arm hat?“

„Das ist der Heiland.“

„Was ist ein Heiland?“

„Ja, das ist doch Gott!“

In Thomas' Stimme schwang deutlich ein „du weißt aber auch gar nichts“ mit.

Nepomuk wurde es ungemütlich. Irgendetwas stimmte hier nicht mit „katholisch“ und „evangelisch“. Oder hatte Frau Kurz das mit Gott nicht richtig erklärt. Wenn Gott alles gemacht hatte, wieso hatte er dann eine Mutter? Und wieso war Gott ein Heiland-Baby, das bei seiner Mutter auf dem Arm lag?

Instinktiv beschloss Nepomuk, dass „evangelisch“ besser war als „katholisch“. „Evangelisch“ war überschaubarer, einfacher. Mutter Gottes? War die zu etwas nütze?

Auf dem Rückweg außer Hörweite der Holzstatue und von ihr unbeobachtet ließ Nepomuk sich von Thomas erklären, was er über die Mutter Gottes wusste. Thomas' Ausführungen gab er das Prädikat „muss noch weiter geprüft werden“. Je nachdem wie Nepomuk seine Fragen stellte, konnte sie Thomas zögerlich oder gar nicht beantworten. Soviel wurde klar, sie hieß Maria und man konnte zu ihr beten. Das hörte sich praktisch an, wenn gerade zu viele Leute zu Gott beteten. Aber dann fiel Nepomuk wieder ein, dass Frau Kurz extra gesagt hatte, dass es für Gott kein Problem sei, wenn alle Menschen gleichzeitig beteten. Und überhaupt, woher sollte jemand wissen, dass gerade zu viele Leute zu Gott beteten?

Bei dem Heiland-Baby verstand Nepomuk, dass es den ungewöhnlichen Namen Jesus Christus trug und unglaublich wichtig war. Aber dass das Baby Gott war? Entweder konnte Thomas das nicht richtig erklären oder Nepomuk konnte es nicht richtig verstehen – oder beides.

Im Gespräch vertieft erreichten die Jungen Nepomuks Garten.

„Mama, wie spät ist es?“, schrie Nepomuk in Richtung Küchenfenster.

„Mama?!“

„Zehn vor sechs.“

„Ich muss los. Spielen wir morgen zusammen?“, verabschiedete sich Thomas.

„Ja, gerne.“

„Bis morgen, tschüss“, trennten sich die Jungen.

Nepomuk beschloss, sich in nächster Zeit nicht mehr mit „katholisch“ zu beschäftigen. „Evangelisch“ war genug, ganz zu schweigen von dem Opium fürs Volk, auf das er sich auch keinen Reim machen konnte.


Anmerkung von Rudolf:

20110513 - Rechtschreibung, Grammatik

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Kommentare zu diesem Text

Anne (56)
(11.05.11)
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 Rudolf meinte dazu am 13.05.11:
Guten Tag Anne, ich habe nicht gezählt, wie oft ich Deinen Kommentar nun schon gelesen habe. Danke. Ich leite Deinen Kommentar an meine Tochter weiter. Die hat mich durch ihr strenges Lektorat dazu getrieben, an dem Text solange zu feilen, bis er fast nicht mehr von mir war.

Vielen herzlichen Dank.
Graeculus (69)
(25.02.16)
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