Keine Spuren

Kurzprosa zum Thema Begegnung

von  Vessel

Schon im Zug war in meinem Bauch das Gefühl, dass alles um mich herum irreal ist. Das Gesicht der Frau neben mir schien nicht auf den Hals passen zu wollen und die Zeitung, die ein Mann auf dem Gang ausgebreitet hatte, war viel zu groß. Er blätterte nicht ein mal um, dann stieg er aus.
Der Wagon war alt, die Sitzpolster an vielen Stellen zerrissen und gelbes Füllmaterial schaute durch. Die Haltestangen waren rostig und bei jeder Unebenheit klapperten die Scheiben.
Unter dem Sitz vor mir fand ich ein kleines Mäusenest, das ich mit meinem Schuh vorsichtig zerstörte. Eine Weile beobachtete ich die rosa Neugeborenen, wie sie, den Bewegungen des Zuges ausgeliefert, herum purzelten.

Wir standen uns gegenüber und zögerten. Ich war an der Endstation ausgestiegen und sie hatte schon auf mich gewartet. Dann umarmte sie mich. Emma. Es sei schön, mich wiederzusehen, sagte sie.
Ich wusste nicht, wieso ich zu ihr gefahren war, vielleicht weil ich glaubte, noch immer etwas für Emma zu empfinden. Sie wolle mich wiedersehen, hatte sie gesagt, und sie habe einen neuen Freund.
Das surreale Gefühl blieb. Ihr Freund war auch am Bahnsteig. Kevin. Er war riesig und trug eine Sonnenbrille, deren Gläser viel größer als sein Gesicht waren. Seine Haare standen seltsam weit ab und er lachte zu künstlich, seine Zähne waren zu weiß.
Er fuhr uns zu ihr nach hause. Ich sagte, ich schlafe in der Jugendherberge, aber Emma wollte nicht und Kevin sagte, das sei kein Problem, sie hätten eine Matratze auf den Flur für mich bezogen. Ich wusste nicht, was sagen. Die Straße war rot, als hätte sie jemand angestrichen und in der Sonne sah ich ein böses Gesicht.
Man wird blind wenn man lange in die Sonne schaut, sagte Emma und Kevin sagte, er dürfe das. Er habe eine Supersondersonnenbrille. Deren Gläser begannen zu wachsen, dann klapperten sie an die Scheiben des Autos während er ruckartig lenkte, um einem Loch in der Fahrbahn auszuweichen.
Das wird ein schöner Abend, sagte Emma und Kevin lachte, als habe sie einen Witz gemacht. Ich sagte, vielleicht. Und Kevins Sonnenbrille wuchs noch ein Stück weiter. Kevin, sagte Emma, ich liebe dich. Mir tat der Bauch weh.
Er fuhr viel zu schnell, ich hatte Angst, dass sich die Straße verbiegt, sie bebte schon und Emma sagte, er solle langsamer machen, aber wir waren da und stiegen aus. Es roch nach Holunder. Kevin küsste Emma, dann fuhr er heim. Ich schmeckte Blut.
Es wurde spät. Emmas Eltern hatten Essen gemacht, der Tisch war gedeckt mit allerlei. Emma redete leise mit ihrer kleinen Schwester, und ihre Mutter legte mir ein Stück Brot auf den Teller, dass sie mit Butter bestrichen hatte. Dann lachten alle vier, Emma, ihre Schwester, Mutter und Vater. Der Vater fragte, wie es mir ginge, was mein Studium mache, und ich konnte nicht antworten, weil die Mutter das Radio aufdrehte. Irgendein Walzer, sie stand auf und fing an zu tanzen. Der Vater sah mich vorwurfsvoll an. Ich zuckte die Schultern, Emma stand auf und tanzte mit ihrer Mutter, dann war der Walzer zu ende, sie setzten sich und redeten miteinander und lachten.
Ich schlief auf der Matratze, auf dem Flur und die war so dünn, dass ich jede Unebenheit im Holz spürte. Ich bin die Prinzessin auf der Erbse, dachte ich und zählte die Astlöcher.
Als ich aufwachte, war es noch früh. Emma saß neben mir auf dem Boden und weinte. Ich sah mich um und überall waren gelbe Rosen. Emma sagte, nachts wird das Haus zu einem Schloss und jeder, der aufwacht und es sieht, ist verflucht. Ich fragte, warum ich das alles damals nicht gesehen habe und sie sagte, ich sei nie aufgewacht. Warum weinst du, fragte ich und sie sagte, sie liebe Kevin nicht.
Es ist deine Entscheidung, ob du mit ihm leben willst, sagte ich und sie sagte, komm mit. Wir gingen in ihr Zimmer und legten uns ins Bett. Auf dem Tisch neben dem Bett stand in einem Rahmen ein Bild von Kevin, er lachte darauf und seine Zähne waren zu weiß. Nimm es weg, sagte Emma und nahm es selbst weg. Darunter war ein Bild von mir, ich fragte sie, warum. Nur so, sage sie.
Wir standen spät auf und beim Frühstück merkte ich, dass ich nicht mehr dazugehörte. Sie redeten von mir, Emma erzählte alles und keiner sah mich an. Die Mutter lachte.
Du hast die Rosen gesehen?, fragte mich die kleine Schwester plötzlich. Ja, sagte ich und sie sagte, ich sei verflucht.
Ich ging mit Emma spazieren, in den Weinbergen hinter dem Haus und wir fanden eine Bank. Wir saßen oft dort früher, und ich sagte, es sind keine Spuren mehr von uns da. Nein, sagte sie, keine Spuren.
Ich glaube, ich liebe dich nicht, sagte ich und sie nickte. Ich weiß, sagte sie. Dann fühlte ich mich besser.
Morgen kommt Kevin wieder, sagte Emma. Du wirst ihm von der Nacht erzählen?, fragte ich. Ich denke nicht, sagte sie, es wäre falsch. Liebt er dich?, fragte ich. Er liebt sich, sagte sie.

Diesmal trug Kevin keine Sonnenbrille. Er hatte einen seltsamen Dialekt und erzählte von sich, dabei hielt er Emma im Arm als habe er Angst, dass sie davonlaufen könne. Er schien mir recht nett zu sein und wir beschlossen, ins Kino zu fahren. Kevin wollte einen Kuschelplatz, aber Emma wollte nicht. Der Film war schön.
Am Abend verabschiedete ich mich. Kevin hatte uns zum Bahnhof gefahren und Emma saß auf seinem Schoß. Als der Zug pünktlich kam stand sie auf und küsste mich. Kevin sagte nichts und Emma winkte, als ich aus dem Abteilfenster sah.
Im Zug stand ein Mann auf dem Gang, der eine Zeitung ausgebreitet hatte. Ein wenig las ich während der Fahrt mit. Hochwasser in Ostdeutschland, Erdbeben in Asien.
Meine Welt war wieder fest. Ich fühlte mich großartig, so als hätte ich seit Wochen zum ersten mal richtig geschlafen. Ich war wieder ganz da und spannte meine Bauchmuskeln an. Dann befühlte ich sie.
Ja, dachte ich, ich bin da.

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Kommentare zu diesem Text


 mondenkind (20.05.11)
du hast einen tollen erzählstil. der zieht den leser in die geschichte hinein, in diese bilder aus wachen und zwielichtiger innenwelt. gefällt mir ausgesprochen gut. lg, nici
Vincént (19)
(20.05.11)
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 Vessel meinte dazu am 21.05.11:
Nein, keine Spuren mehr! Gestern hat es geregnet!

Danke fürs lesen, und danke für den Kommentar! Den weiß ich sehr zu schätzen :)
Savignon (26)
(18.08.11)
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 Vessel antwortete darauf am 19.08.11:
Element of Crime sagt mir etwas, also als Band, habe noch nie ein Lied von ihnen gehört ... werde aber mal auf YT reinschauen, gute Sonngtexte kann man nie genug kennen.
Danke, für deine Meinung =)
Daniel (50)
(03.07.23, 14:13)
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