Der Tag, an dem es Zeit wurde. oder: können Fliegen singen?

Text zum Thema Tod

von  SunnySchwanbeck

„Nachdem sich Fliegenlarven an einer verwesenden Leiche satt gegessen haben, verlassen sie diesen Ort des Todes in Reih und Glied, in einer ordentlichen Linie, die sich immer nach Süden bewegt. Manchmal nach Südosten oder Südwesten, aber niemals nach Norden. Niemand weiß, warum.“
Ich lese Mildred gerade aus „Chemie des Todes“ von Simon Beckett vor, sie liegt in ihrer Farblosigkeit einfach nur unter einer, sie erdrückenden, Decke und sieht mich aus großen, grauen Augen an. „Wenn ich sterbe, werde ich den Insekten eine Nachricht hinterlassen, sie sollen sich gut satt essen und danach in den Norden gehen, sie sollen es wagen. Ich hoffe sie können lesen, ansonsten musst du bei mir ausharren, und es ihnen sagen. Würdest du das tun?“ Ihre Lippen bewegen sich kaum, während sie spricht, und von Tag zu Tag scheinen sie dünner und blasser zu werden. Ich lächle sie ein bisschen an, flüstere ich würde es ihr sogar versprechen und lege das Buch auf meinen Schoß.
Sie schließt ihre Augen und summt eine Melodie die ich bald schon vergessen haben werde

.

Einmal saß ich mit Mildred an der Bushaltestelle, wohin wir wollten weiß ich nicht mehr. Sie saß in einem nahezu skandalös kurzem Blümchenkleid neben mir auf der Holzbank und ließ ihre kurzen, weißen Beine baumeln. Die Sonne knallte uns in die verschwitzen Gesichter und ich suchte gerade irgendwas in meiner Tasche als sie zu sprechen begann. „Meinst du Fliegen hassen sich selbst? Meinst du, sie wissen dass sie Scheiße fressen? Und überhaupt, meinst du, sie wissen überhaupt was Scheiße ist? Vielleicht müsste es ihnen nur mal jemand sagen, meinst du, sie würden dann etwas anderes fressen? Und weißt du, was ich denke? Ich denke, wenn sie nicht so summen würden, so nervtötend summen, sondern fröhliche Lieder singen würden, ich denke dann würden die Menschen auch keine Fliegenklatschen mehr kaufen. Meinst du nicht auch?“ Ich sah sie mit zusammen gezogenen Augenbrauen an und blickte danach auf den Hundehaufen zu ihrer Rechten, auf dem sich ein paar Fliegen tummelten.
Ich weiß noch, dass sie einen Hut trug der ihre fuchsroten Haare bedeckte und einen großen Schatten auf ihr Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht warf. An ihren Blick erinnere ich mich nicht mehr, vielleicht sah sie traurig aus.

Als Mildred zum ersten Mal mein Zimmer betrat suchten ihre Augen meine Wände ab. Auf ihrer milchigen Stirn bildete sich eine kleine Falte, und sie schob kaum merklich die Unterlippe vor. „Hast du gar keine Bilder an den Wänden? Fotos? Von Freunden, Familienmitgliedern oder Verstorbenen? Hast du Angst, dass dich Leute auf die Personen auf den Fotos ansprechen? Du könntest ja kleine Anmerkungen unter die Fotos stellen, wie z.b. „Das ist Mildred, sie ist 17 Jahre alt und eine gute Freundin von mir, sie lebt noch und wir haben uns noch nie gestritten.“ Dann müssten die Leute nicht mehr fragen und du könntest Fotos aufstellen. Würdest du ein Foto von mir aufstellen, wenn ich tot bin?“ Während sie mir ihre Theorien über Wahrscheinlichkeiten und die dazu passenden Möglichkeiten schilderte, tänzelte sie durch mein kahles Zimmer und streifte mit ihrer kleinen Hand meine Wand entlang. „Stell dir vor, du seist das erste abstrakte Gemälde auf der Welt, von der Zeit gezeichnet, und niemand wüsste was du sein sollst, was dein Sinn und Zweck ist und ob man dich schön finden soll. Niemand würde dich verstehen, und Niemand würde dich gerne bei sich im Haus haben. Glaubst du nicht, dass das furchtbar wäre?“

Manchmal war ich mit ihr hinterm Bahnhof, dort ist eine wilde Blumenwiese die an ein verfallenes Haus grenzt. Mildred saß gerne auf der Treppe vor der Ruine und ließ ihre Lippen über die kurzen, goldenen Haare ihres Armes streifen. Sie wusste genau wo meine Leberflecke waren, ebenso gut wie sie wusste wo ihre hingehörten. „Ich frage mich, ob sich die Leberflecken retten, wenn man stirbt. Ob aus den kurzen Haaren Beinchen werden, und sie davon krabbeln wie kleine Käfer die einfach unter deiner Haut geschlafen haben. Sie würden wahrscheinlich die Sommersprossen auslachen, oder? Ich meine, Sommersprossen können ja nicht davon krabbeln, ohne Beinchen.“

Die Melodie die sie an jenem Tag summte, als es Zeit wurde, vergaß ich. Auch wie ihr Parfum roch und welche Farbe ihre Nägel hatten als sie sich in die Bettdecke krallten. Ich erinnere mich auch nicht mehr an die Tränen, die es gegeben haben musste, als man sich in schwarzer Kleidung in den Armen lag. Ich habe Mildred bis Heute nicht verlassen. Ich sitze hier neben frischer, lockerer Erde und einem Meer aus Blumenkränzen, und warte auf die Fliegen.


Anmerkung von SunnySchwanbeck:

ich weiß, du hättest T. lieber an deinem Grab gehabt, aber ich glaube, er hat eine Fliegenklatsche.
http://www.youtube.com/watch?v=-kCKob1YKOU

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Kommentare zu diesem Text


 NenntMichIsmael (25.08.11)
Autsch.

 SunnySchwanbeck meinte dazu am 26.08.11:
ein riesiges herz-autsch, stiller dank für die empfehlung. knicks.
(Antwort korrigiert am 26.08.2011)
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