Urlaubsfreuden. Hier: Abflug.

Erzählung zum Thema Urlaub/ Ferien

von  Orion

Lea = Ehefrau
Heidi = Tochter
Ich = Verfasser


Es ist wieder soweit. 01.00 Uhr in der Nacht, der Musikwecker schreit die neuesten Nachrichten ins Schlafzimmer.
Nach mehreren Fehlversuchen mit unterschiedlichsten Ergebnissen treffe ich die richtige Taste, er schweigt.
„Na, kommst Du mit dem Wecker wieder mal nicht zurecht?“
Ich überhöre den gehässigen Unterton diesmal einfach, schon zu oft habe ich meiner Ehefrau zu erläutern versucht, dass ich einen Radiowecker mit dieser Unzahl von Tasten und Funktionen für absolut unpraktisch halte und ihn deshalb persönlich nicht angeschafft hätte.
„Na los, raus aus den Federn. Wir müssen rechtzeitig am Flughafen sein.“
„Warum kommst Du immer gleich in Panik? Wir haben noch genug Zeit. Wir fahren doch höchstens eine Stunde bis Gumpensund. Das Flugzeug startet erst um 4.50 Uhr. Also: jede Menge Zeit.“
Meine Frau hat die Ruhe weg.
„Ich würde aber schon gerne um 02.00 Uhr losfahren. Denk an den Stau auf der Autobahn vor zwei Jahren.“
„Ach, mach jetzt bloß keine Panik. Weck lieber Heidi auf.“
Heidi ist unsere 11jährige Tochter und sitzt offenbar schon längere Zeit im Wohnzimmer vor dem Fernseher.
„Ich konnte nicht einschlafen.“
Die Werbeunterbrechungen sind um diese Zeit garantiert nichts für Elfjährige, daher schalte ich den Kasten aus.
„Geh ins Badezimmer, pack anschließend Deine Kosmetiktasche und zieh Dich an. Wir müssen bald los!“
„Nun verbreite doch nicht so eine Unruhe! Wir haben genug Zeit! Heidi, mach alles in Ruhe.“
„Ich packe schon mal die Koffer ins Auto.“ Ein Versuch, die Dinge zu beschleunigen.
„Nein, das geht nicht. Ich muss die Kosmetiksachen und die Schuhe verstauen. Das dauert noch etwas.“
Ich werde unruhig. „Ich dachte, die Koffer sind fertig gepackt?“
„Nächstes Mal kannst Du ja alles machen! Die ganzen Vorbereitungen, Sachen raussuchen für drei Personen und so weiter. Jetzt hör auf zu nerven!“
Ich setze mich an den Esstisch und schalte das Radio ein.
„Eine dringende Meldung für Autofahrer auf der A7:  in Höhe der Rastanlage Hackelsbusch befinden sich Kühe auf der Fahrbahn. Zur Zeit 3km Stau. Bitte umfahren Sie den Bereich weiträumig, wenn Sie können.“
Elektrisiert springe ich auf. „Lea, Stau auf der Autobahn, da laufen Kühe rum. Wir sollten uns sputen!“
„Wenn wir da vorbeikommen ist doch schon wieder alles erledigt. Hier sind die Kosmetiksachen, die kommen in den Koffer mit dem roten Band. Pack sie ein und schließ den Koffer ab.“
Endlich geht es voran.
Der Koffer mit dem roten Band ist allerdings schon voll. Die beiden Kosmetikbeutel passen da unmöglich noch hinein. Aber bevor ich mich erneut beschimpfen lasse versuche ich das Unmögliche. Pressen, pressen, das Knie auf den Kofferdeckel platziert. Tatsächlich, der Reißverschluss bewegt sich in Richtung Ziel, der Koffer sieht zwar bedrohlich dick aus, aber er ist geschlossen. Jetzt noch mit dem Zahlenschloss durch die beiden Ösen, die Zahlen verstellen und fertig.
„Kann ich den Koffer mit dem roten Band schon ins Auto laden? Die Kosmetikbeutel sind drin!“
„Ja, der kann schon weg.“
Mann, ist der schwer. Garantiert schwerer als 20kg.
„Lea, der kommt mir so schwer vor. Soll ich ihn mal wiegen? Lt. Reiseunterlagen darf jeder Koffer
maximal 20kg  wiegen und …“
„Tu was Du nicht lassen kannst. Hier sind die Schuhe. Pack die bitte in den Trolley mit dem gelben Band. Und beeil Dich. Wir sind dann gleich soweit.“
Vorsichtig stelle ich den Koffer mit dem roten Band auf die Personenwaage. 27kg!
„Lea, der Koffer ist 7kg zu schwer!“
„Sind die Schuhe schon eingepackt?“
„Nein, ich bin noch beim Kofferwiegen, und der mit dem roten Band  ist zu schwer!“
„Pack die Schuhe rein und die Koffer ins Auto! Ich gucke nochmal alles durch und dann können wir. Heidi, setz Dich hinten rein. Hast Du ein Kuscheltier dabei?“
Da auch der Trolley mit dem gelben Band mit Sicherheit mehr als 25kg wiegt beschleicht mich eine gewisse Unruhe im Hinblick auf das Einchecken. Aber das behalte ich für mich.
Mit vereinten Kräften gelingt es uns tatsächlich, den zweiten Koffer nach Einlagerung der Schuhe zu verschließen, aber wie schon in den vergangenen Jahren kann ich schwerlich glauben, dass ein so prall gefüllter Koffer eine Reise über tausende Kilometer mit Rein- und Rausschmeißen in die Gepäckwagen ohne zu Platzen übersteht.
„So, Haus, mach’s gut bis in 2 Wochen!“ Ein letzter Gruß ans Einfamilienhaus, die Haustür fällt ins Schloss, 02.10 Uhr, es geht los.
„Heidi, warst Du noch einmal auf der Toilette?“
„Ich muss nicht.“
Okay.
„Hast Du die Unterlagen dabei, Lea?“
„Na klar, in meiner Handtasche. “
Okay.
Ich schalte das Navi an, unser Ziel, der Flughafen von Gumpensund, ist gespeichert, die Route ist berechnet. Tschüss, Heimatdorf!
Bereits nach wenigen Kilometern Fahrt werden mir Störungen auf der Fahrtstrecke gemeldet. Die Dame im Navi fragt, ob ich diese umfahren möchte.
„Was meinst Du, Lea. Sollen wir eine alternative Strecke berechnen lassen?“
„Du fährst doch! Ich will nur rechtzeitig auf dem Flughafen sein. Also mach, was Du willst.“
Ich tippe „OK“ auf der Fernbedienung, das Navi rechnet kurz und teilt mir mit, dass ich die Autobahn A7 zu meiden und der B124 66km zu folgen habe. Die neue Fahrzeit ist 10 MIN länger, dafür ist die Fahrtstrecke aber 3 KM kürzer. Eine wichtige Information für Statistikbegeisterte.
„Papa, warum fährst Du nicht auf die Autobahn?“ Heidi meldet sich von der hinteren Sitzbank.
„Weil es da Probleme gibt und wir evtl. im Stau stehen müssen. Das will ich vermeiden, Mäuschen.“
„Verpassen wir jetzt unser Flugzeug?“
„Aber Nein, Heidi. Wir kommen ganz flott voran.“
„Ich meine ja nur, auf der Autobahn gibt es Parkplätze mit Beleuchtung und Toiletten.“

Auch eine Bundesstraße bietet Parkplätze, allerdings sind diese nicht beleuchtet.
„Bleib bitte dicht am Auto und beeil Dich, Heidi.“
„(Kreisch) Mama, ich bin da in was reingetreten und das stinkt so schlimm. Ich muss bestimmt kotzen.“
Zum Glück habe ich eine Dynamo-Taschenlampe im Handschuhfach, immer helles Licht ohne Batteriesorgen. Lea steigt aus, ich kurbele emsig, um den Akku zu laden.
„Nun gib endlich die Lampe her, ich kann nichts sehen.“
„Das Licht ist nicht hell genug, ich muss noch weiterkurbeln.“
„Lampe her, ich muss wissen, was hier so weich ist.“
Obwohl das Licht noch nicht die optimale Helligkeit aufweist, kann man die verwesenden, madenbefallenen  Innereien und Tierhäute, in denen Frau und Tochter stehen, gut erkennen. Die von Schreien untermalte, reflexartig einsetzende Flucht bringt die beiden zwar auf festen, sicheren Untergrund, verzögert den Zeitpunkt des unkontrollierten Erbrechens aber nur kurz. Zu meinem Erstaunen schaffen sie es, während der natürlichen Brechpausen ihre Schuhe und Strümpfe von den Füßen zu streifen. Barfuß, übelriechend und schluchzend kehren Sie ins Auto zurück.
Während die Dame im Navi mich auffordert, nach 1,5km rechts auf die B123 abzubiegen befiehlt meine Frau: „Fahr auf die Autobahn. Wir müssen uns waschen!“
02.55 Uhr. Im Hinblick auf die angezeigte Störungsmeldung auf der Fahrtstrecke über die BAB halte ich das jetzt  für keine gute Idee, aber Bedenken dieser Art sind hier absolut fehl am Platz. Kurz darauf folge ich dem Hinweisschild in Richtung Autobahn, mein Navi berechnet pflichtgemäß umgehend die neue Route.
Nach kurzer, unterbrechungsfreier Fahrt erreichen wir die Autobahnraststätte Hackelsbusch und parken direkt vor dem Eingang zu den Waschräumen. Das bringt mir dankbare Blicke ein. Frau und Tochter verschwinden umgehend hinter der weißen Tür, während ich mir etwas „die Beine vertrete“, das heißt, ich gehe ziellos auf und ab. Wir haben es bald geschafft, Gumpensund ist nicht mehr weit und zeitlich ist auch noch alles im grünen Bereich.
Eher zufällig schaue ich in das hell erleuchtete Restaurant und nehme befremdet wahr, dass ich von den bemerkenswert vielen Gästen, die dichtgedrängt an den Restaurantfenstern stehen, regelrecht angestarrt werde. Verwundert sehe ich mich um. Ich bin der einzige Mensch auf dem großen Gelände. Auf der Tankstelle, auf den Parkplätzen ist alles menschenleer. Schulterzuckend sehe ich noch einmal ins Restaurant und erschrecke. Wild gestikulierend zeigen die Menschen auf einen Punkt links hinter mir. Jetzt doch etwas ängstlich drehe ich mich erneut um.
Die Meldung im Radio! Die Kühe auf der Raststätte! Nur sind es keine Kühe, die sich gemächlichen Schrittes, aber sehr an mir interessiert, auf mich zubewegen! Es sind drei riesige Zuchtbullen!
Die Tür zu den Waschräumen ist ungefähr 20m entfernt, ich sprinte los. Sofort rennen auch die drei Bullen auf mich zu, aber ich bin schneller. Ich schließe hastig die Waschraumtür und stürze in die Damentoilette, auch dort schließe ich die Tür hinter mir.
Lea und Heidi stehen vor den Waschbecken, nasse, seifige Papiertücher in den Händen und sehen mich verständnislos an. Im nächsten Augenblick stürmen die Zuchtbullen brüllend und schnaufend in den Flur vor der Damentoilette, die Außentür stellte offenbar kein Hindernis für sie dar.
Ich umarme meine immer noch ratlos guckende Familie in Erwartung des Schlimmsten. Während ich tröstende Worte zu finden suche verändert sich die bisher schon angsteinflößende Geräuschkulisse dramatisch.
Meine einzige Erklärung für das jetzt einsetzende, scheinbar direkt aus der Hölle stammende panische Stampfen und Schmerzgeschrei ist die Vermutung, dass sich die drei Bullenkörper in dem engen Flur hoffnungslos ineinander verkeilt haben müssen.
Das Getöse brechenden Mauerwerkes zeigt die Lösung des Problems an. Die mächtigen Tiere stürmen triumphierend weiter ins Gebäude hinein, das Stampfen der wilden Horde entfernt sich von der Damentoilette, das Krachen durchbrochener Türen wird leiser.
Das ist der Augenblick der Flucht.
Ohne weiter nachzudenken reiße ich die Tür vom Toilettenraum auf und wir stolpern, uns an den Händen haltend, über Mauerreste durch die zerschmetterte Außentür zu unserem Auto.
Heidi weint, Leas Augen fragen: „Was war hier los?“
Zum Glück habe ich den Autoschlüssel nicht verloren, er klimpert in meiner Hosentasche. Beim Wenden in Richtung Ausfahrt sehen wir eine schreiende Menschenmenge aus dem Hauptausgang des Raststättengebäudes in alle Richtungen laufen, während im Restaurant jetzt die drei herumspringenden gewaltigen Bullen scheinbar keinen Stein mehr auf dem anderen lassen wollen.
03.20 Uhr. Geht ja gerade noch.
Die weitere Fahrt verläuft schweigsam und ereignislos. Bis zur Auffahrt auf das Flughafengelände. Dort teilt mir eine Anzeigetafel mit, dass kein freier Parkplatz mehr vorhanden ist. In allen entsprechenden Anzeigefeldern leuchtet rote und unübersehbar eine Null. Kein freier Parkplatz, nirgends.
04.05 Uhr.
„Fahr einfach irgendwo hin. Wir werden bestimmt einen Parkplatz finden.“
Okay, auf geht’s.
Der rot-weiße Balken im nächstgelegenen Parkhaus bleibt nach Tastendruck mit der Begründung „Parkhaus voll“ in seiner horizontalen Ruhestellung. Heidi weint hörbar: „Wir kommen bestimmt zu spät.“
„Ich habe es doch gesagt, dass Du die Autobahn nehmen solltest! Jetzt haben wir den Salat! Ach, das ist alles so Sch… mit Dir. Keinem passiert sowas, Du bist immer der Loser! “ Lea schluchzt jetzt hemmungslos.
Das reicht! Mit eiserner Miene steige ich aus und knalle die Tür hinter mir zu.
„Was hast Du vor?“ kommt es gedämpft aus dem Fahrzeug.
Ich gehe in die Knie und lege den rot-weißen Balken auf meine rechte Schulter, langsam hebe ich das Hindernis in die Höhe. Es klappt tatsächlich!
„Hallo, was machen Sie denn da? Was soll das? Stellen Sie das sofort ein! Ich benachrichtige die Polizei!“ Eine blecherne Stimme dringt aus dem Kontrollkasten neben der Einfahrt.
Noch eine letzte Anstrengung und die Einfahrt ist frei. Ungeachtet des nervtötenden Gezeters aus dem billigen Lautsprecher fahren wir in das Parkhaus. Und siehe da, im 3. Stock gibt es tatsächlich mehrere freie Plätze. Schnell wird eingeparkt, wir heben die prallen Koffer aus dem Kofferraum und rasen zur Abfertigungshalle. Schon von weitem hören wir unsere Namen. „Herr …. und Frau … letzter Aufruf …bitte melden Sie sich am Schalter 102.“
Keuchend kommen wir an. „Na, das war ja wirklich auf die letzte Minute“ sagt die freundliche Dame. „Ihre Tickets, bitte. Und die Koffer nacheinander auf das Band stellen.“
Ich versuche, meine Frau nicht anzusehen während sie mit fahrigen Bewegungen in ihrer Handtasche wühlt. Heidis „Mama, hast Du die Tickets vergessen?“ löst ein „Nein, verdammt, ich habe sie doch eingepackt! Wirklich!“ aus und ihr Gesicht in den Händen vergrabend sinkt sie auf die Knie und bricht in hemmungsloses Weinen aus.
Auf den an den Wänden hängenden Flachbild-Fernsehern wird ein von einer Überwachungskamera aufgenommener Film gezeigt. Es ist zu sehen, wie ich auf dem Gelände der Autobahnraststätte Hackelsbusch in panischer Flucht vor drei  Bullen gerade noch soeben die Waschraumtür hinter mir zuschlagen kann, bevor sie der erste Bulle mit gesenktem Kopf zu Kleinholz macht. Die Laufschrift sagt aus, dass man über mein weiteres Schicksal keine Informationen habe und die sehr wertvollen Zuchtbullen später von herbeigeeilten Mitarbeitern des nahe der Rastanlage gelegenen Nordland-Besamungsinstitutes betäubt und eingefangen werden konnten. Da in der Nähe des Institutes das völlig demolierte Fahrzeug einer weniger bekannten Tierschutz-Organisation sowie blutverschmierte Kleidung gefunden wurde ermittelt die Polizei auch in diese Richtung.
Das Restaurant der Raststätte sei leider durch die aufgebrachten Tiere restlos zerstört worden.  Schadensersatzforderungen werden vom Besamungsinstitut kategorisch abgelehnt.
Einige der zwischenzeitlich herbeigeeilten Flughafen-Angestellten blicken fragend auf mich und die Wiederholungen der Verfolgungs-Szene. Ich nicke nur noch erschöpft und teilnahmslos, meine Frau tut mir so leid, sie ist nur noch ein weinendes Häufchen Elend, meine Tochter blickt stumm und traumatisiert in die Runde.
Unsere übergewichtigen, prallen Koffer werden vom Transportband genommen und zu uns zurückgeschoben. Die freundliche Dame vom Check-In-Schalter fragt: „Es geht mich ja nichts an, aber mich würde interessieren, warum Ihre Frau und Ihre Tochter barfuß laufen. So sehr warm ist es ja nun nicht mehr. Machen Sie das aus irgendwelchen religiösen Gründen?“
Meine eben noch apathisch und leblos wirkende Lea springt bei diesen Worten auf, die freundliche Dame rennt, Angstschreie ausstoßend, hinter ihren Schalter zurück.
„Schnell, mach den Trolley mit dem gelben Band auf. Da sind die Tickets drin! Neben den Schuhen! Bei „barfuß“ bin ich drauf gekommen!“
Ich lege sofort los. „Wie ist die Zahlenkombination für das Schloss?“ frage ich.
„Den Zettel mit den Kombinationen habe ich zusammen mit den Tickets in den Koffer gepackt.“ antwortet  meine Ehefrau. „Das ist wohl aus Versehen passiert. Was machen wir denn jetzt?“
Vor meinem inneren Auge erscheint ein klares Bild. Ohne zu zögern versetze ich dem Koffer mehrere stramme Tritte und er platzt genau so auf, wie ich es mir vorgestellt habe.
Heidi greift sofort in die verstreut herumliegenden Kleidungsstücke und zieht die Plastikhülle mit den Tickets hervor. „Hier, Mama. Jetzt wird doch noch alles gut.“
Eilig werfe ich Schuhe, Hosen und was man sonst so in Urlaubskoffern transportiert in die aufgeplatzte Kofferhülle zurück und bitte um Klebeband.
Ein junger Mann reicht mir eine Rolle mit den Worten: „Ich habe mir schon gedacht, dass Sie so etwas benötigen würden“ und hilft mir beim Kofferzukleben.
Während Lea und Heidi im Laufschritt zur Sicherheitskontrolle laufen will ich den ersten Koffer auf das Transportband neben dem Schalter hieven. Jäh werde ich gestoppt: „Dafür ist es zu spät. Das Gepäck für diesen Flug ist bereits vollständig in die Maschine geladen worden.“
„Und was nun?“
„Tja, da muss ich den First Safety Officer fragen. Das kann aber dauern.“ Dann greift sie zum Telefonhörer.
04.43 Uhr.
Frau und Tochter sind nicht mehr zu sehen. Während ich grübelnd auf dem zugeklebten Koffer sitze lese ich auf den Flachbildschirmen, dass nun weitere Informationen über den Verbleib des vor den Zuchtbullen geflohenen Mannes bekannt sind. Zuerst erscheint das Bild des Flughafensprechers von Gumpensund und nach kurzer Zeit sieht man uns vor dem Abfertigungsschalter, meine Frau barfuß weinend auf die Knie sinkend und ich kräftig gegen den Koffer tretend, bis er aufplatzt, während meine regungslose, barfüßige Tochter ins Leere starrt.
Die Laufschrift sagt aus, dass unsere Identität bekannt sei und bislang keine Verbindung zu Terrorzellen nachgewiesen werden konnte.
Das Video beginnt jetzt von vorn und ein freundlicher, uniformierter Herr legt mir die Hand auf die Schulter. „Folgen Sie mir bitte und nehmen Sie Ihr Gepäck vollständig mit. Leider darf ich Ihnen aus rechtlichen Gründen dabei nicht helfen, Sie verstehen. Vorschriften. Sind Sie soweit?“
Ich bin soweit. Die beiden unhandlichen Koffer schleppend folge ich dem Uniformierten in Richtung eines Seitenausgangs, der nach Angabe eines Codewortes von einem weiteren Uniformierten von innen geöffnet wird.
Es geht mehrere Flure und enge Treppen abwärts, wobei die übergewichtigen Koffer für mich eine kaum zu bewältigende Last und Gefahr darstellen. Unzählige Male stürze ich einige Stufen mitsamt den Koffern hinunter, die dabei erlittenen Verletzungen und Platzwunden ignorierend.
Dann endlich öffnet der Uniformierte eine rote Tür. „So, weiter darf ich Sie nicht geleiten. Sie müssen jetzt noch das kurze Stück über das Flugfeld zu Ihrer Maschine dort hinten gehen. Und lassen Sie Ihre Kopfverletzungen baldmöglichst behandeln.“
Ich werde durch die Tür geschoben und befinde mich mitsamt meiner ramponierten Koffer im Freien. Eine kleine Luke wird am Flugzeugrumpf geöffnet. Ich erkenne meine Ehefrau Lea, die mir zuwinkt und ein Seil herunterlässt.
Die jetzt heftiger werdenden Schmerzen im rechten Bein zwingen mich, auf allen Vieren zu kriechen. Vorwärts, vorwärts, treibe ich mich an.
Wie ein Blitz fährt ein Schmerz durch den linken Arm, Blut tropft aus dem Ärmel, der Arm ist nicht mehr zu gebrauchen. Jetzt muss ich einen Koffer mit dem Mund weiterschleppen. Das geht nur langsam, aber es geht. Durch das Rauschen in meinen Ohren höre ich endlich Leas und Heidis Stimmen: „Binde die Koffer ans Seil! Wir ziehen sie hoch. Mach schon!“
Es fällt mir nicht leicht, mit nur einem funktionierenden Arm, trotzdem gelingt mir ein fester, haltbarer Knoten.
Ein Fenster am Cockpit öffnet sich, der Copilot ruft mir zu: „Sorry, aber wir müssen jetzt los. Der Flugplan, Sie verstehen? Lassen Sie bitte die Koffer los und kriechen Sie etwas beiseite.“ Das Fenster wird wieder geschlossen, die Triebwerke heulen auf und das Flugzeug setzt sich langsam in Bewegung.
„Lea, Heidi, schnell, zieht die Koffer hoch!“ schreie ich mit letzter Kraft und kralle mich mit meinem gesunden Arm am Seil fest. Ich spüre noch, wie es aufwärts geht und verliere das Bewusstsein.
„Na, da ist er ja wieder“ höre ich eine Männerstimme aus weiter Ferne sagen. „Hier, das bringt Sie wieder auf die Beine, bzw. auf das heile Bein.“ Eine scharfe, ätzende Flüssigkeit wird in meinen Mund gekippt und sorgt für erfrischende Schmerzen an der aufgeplatzten Oberlippe. Dadurch werde ich vollends wach, spüre allerdings auch sämtliche anderen Schmerzen wieder ungedämpft.
„Möchten Sie noch einen?“ fragt mich der Flugbegleiter. Ich sehe mich um. Ich sitze im Flugzeug auf dem reservierten Platz, neben meiner Frau und meiner Tochter. Wir haben es also doch noch geschafft. Stöhnend, aber zufrieden, wende ich mich meiner Frau zu: „Na Lea, das war ja wohl ein Ding, oder?“
Sie sieht von Ihrem Buch auf: „Also ehrlich, ich finde, letztes Jahr war es schlimmer!“

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