Lullaby

Kurzgeschichte zum Thema Erinnerung

von  MrDurden

„Papa?“

„Ja, mein Großer? Was gibt’s?“

„Hast du mal jemanden sterben sehen?“

Mit vor Müdigkeit brennenden Augen sitze ich an der Kante seines kleinen Bettes. Kurz vor 23:00 Uhr. Eigentlich viel zu spät, um einen sechsjährigen Jungen ins Bett zu bringen, doch seit seine Mom nicht mehr hier ist, geht alles drunter und drüber. Stress auf der Arbeit, Papierkrieg mit dem Jugendamt, zu oft bleibt der Haushalt auf der Strecke und zu oft finde ich keine freie Minute, die ich meinem Sohn widmen könnte. Die Situation überfordert mich, doch anmerken lasse ich mir nichts. Erschöpft blicke ich in den schwachen Lichtkegel der kleinen Lampe auf seinem Nachttisch. Er kennt die Antwort auf seine Frage.

„Mach jetzt die Augen zu, Partner. Es ist spät und morgen wird wieder ein langer Tag.“

„Aber ich kann noch nicht schlafen. Wann kommt Mama wieder zurück?“

„Wir haben doch schon darüber gesprochen, Junge. Du weißt, dass sie nicht zurückkommt.“

Seine Augen werden glasig und seine kleinen Finger graben sich tief in die Bettdecke. Mit Daumen und Zeigefinger reibe ich mir die Augen und versuche krampfhaft, meine Tränen zurückzuhalten.

„Ich mach dir nen Vorschlag, Kumpel. Ich erzähl dir eine Geschichte und wenn die zu Ende ist, machst du ganz fest die Augen zu und besuchst deine Mom im Traum. Ist das ne Idee?“

Mit hängenden Mundwinkeln sieht er mich geknickt an und willigt mit einem schwachen Nicken ein.

„Also, vor sehr langer Zeit gab es mal einen Jungen, der ungefähr so groß war wie du. Er redete nicht viel und hatte nicht besonders viele Freunde. Die Menschen tuschelten oft hinter seinem Rücken und dachten, dass er so in sich gekehrt war, weil er niemanden außer seiner Mutter hatte. Die meiste Zeit hing er seinen Gedanken nach und beobachtete alles um sich herum. Die Menschen, ihre seltsamen Gewohnheiten und die sonderbaren Dinge, die sie taten. Alles, was dem Jungen etwas bedeutete, war seine Mutter und das Schlaflied, das sie ihm jede Nacht sang, bevor sie ihren Sohn mit einem Kuss auf jedes Auge schlafen legte. Die meiste Zeit über fühlte sich der kleine Junge, als gehörte er nicht in diese unwirkliche Welt, als sei sein Platz weit weg an einem anderen Ort. Die Jahre vergingen und der Junge wurde erwachsen. Und als seine Mutter eines Tages nicht mehr da war, beschloss er, sein leeres Elternhaus zu verlassen. Er lief und lief, soweit ihn seine Füße trugen. Und wenn er sich einsam fühlte, dachte er an das Schlaflied seiner Mutter, das er als Kind so geliebt hatte. Tage wurden zu Wochen und Wochen zu Monaten. Die einsamen Straßen, auf denen der Junge ging, schienen kein Ende zu nehmen. Doch eines Tages nahm sein Weg ein abruptes Ende. Eine tiefe Schlucht zog sich durch die bewaldete Landschaft und hielt die weiterführende Straße in unerreichbarer Ferne. Also setzte sich der Junge auf den harten Asphalt und starrte in Richtung Horizont. So harrte er drei Tage und Nächte aus, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Und kurz nachdem er in der dritten Nacht eingeschlafen war, begegnete ihm seine Mutter im Traum. Sie sang ihm ihr Schlaflied und wie in Trance streckte er seine Hand nach ihr aus, doch plötzlich wurde er von einem Gefühl aufgeweckt, als würde er fallen. Und während er sich orientierungslos umsah, konnte er leise in der Ferne das Schlaflied hören.“

Seine Augen sind beinahe zugefallen. Ich wünschte, ich wäre in seinem Alter so tapfer gewesen. Noch einmal atme ich tief durch und setze zum Ende der Geschichte an.

„Es war eine sternklare Nacht und mit Tränen in seinen Augen sah der Junge in den funkelnden, schwarzen Himmel. Und plötzlich war es, als würde sich eine warme Decke um ihn legen. Nachdenklich beobachtete er noch bis zum Morgengrauen den Himmel. Und zum ersten Mal in seinem Leben wusste er, dass er nicht einmal dann einsam war, wenn kein Mensch da war, um ihn zu stützen.“

Langsam neigt sich sein Kopf zur Seite und behutsam lege ich die Bettdecke über seinen kleinen Brustkorb.

„Denn Einsamkeit beginnt nicht mit der Abwesenheit der Menschen, die wir lieben. Einsamkeit beginnt in unserem Geist und in unserem Herzen.“

Ein leises Knipsen und das Licht der kleinen Lampe erlischt. Mit leisen Schritten gehe ich in Richtung Flur, lasse die Tür des Kinderzimmers einen Spalt weit offen. Und während ich meine Augen schließe, lausche ich ihrer sanften Stimme und dem Schlaflied, das sie mir jede Nacht singt.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (05.12.11)
"seine Mom", "Partner" usw. usf. Mir kommen die Tränen! (=meine Augen werden glasig).

 MrDurden meinte dazu am 05.12.11:
Freut mich, wenn der Text gefällt. Vielen Dank für deinen Kommentar! Grüße, David!
Arebina (19) antwortete darauf am 04.05.12:
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