In stiller Nacht

Kurzgeschichte zum Thema Weihnachten

von  MrDurden

Eingepackt in zwei Pullover und eine dicke Winterjacke stapfe ich durch den frisch gefallenen Schnee die Promenade entlang. Eisiger Wind peitscht mir gefrorene Flocken ins Gesicht und in Gedanken an meine warme, kleine Wohnung, einen heißen Kakao und meine zahllosen DVDs versuche ich krampfhaft, die Kälte zu vergessen, die klirrend durch meinen Körper fährt. Es ist Samstagabend, Heiligabend, was auch immer. Von wegen stille Nacht. Der Schneesturm dröhnt in meinen gefühllosen Ohren, als käme er aus dem Herzen Sibiriens selbst. Es geht nicht um Stille in dieser einen Nacht, die Jahr für Jahr wiederkehrt. Auch nicht um Liebe, Beisammensein oder die Geburt des Retters der freien Welt. Es geht um Plätzchen, um mit Lametta verunstaltete Stummelbäumchen, um ein zufriedengestelltes Ego, das man mit dem Verschenken überteuerter Unterhaltungselektronik striegelt und nicht zuletzt darum, dass „Weihnachten unterm Baum entschieden wird“. Ich hätte Werbedesigner werden sollen.

Die Straßen sind wie leergefegt. Schniefend grabe ich mein Gesicht in den Kragen meiner Jacke und steige die Treppe der Bahnunterführung hinab. Der Gang ist lang, schmal und einige der grell leuchtenden Neonlampen liegen zersprungen am kalten Betonboden. In einem der Lichtkegel vor mir erkenne ich eine regungslose Gestalt, einen Mann, der nur dünn bekleidet auf einer Styroporplatte am Boden sitzt und in meine Richtung starrt. Je näher ich ihm komme, desto mehr drängt sich mir ein übler Geruch auf. Ein ungepflegtes, schmutziges Gesicht, versteckt unter einem verfilzten, gelben Bart wird langsam in der Dunkelheit erkennbar. Die Situation ist mir unangenehm und so gehe ich schneller, um dieses Elend hinter mir lassen zu können. Und obwohl ich keine Sekunde lang zu ihm herabblicke, spüre ich, dass sein Blick mich während dem Vorübergehen durchbohrt, wie eine Kugel aus nächster Nähe.

Eilig steige ich die Treppe der Unterführung hinauf, schüttle kurz verständnislos den Kopf und versuche, mich auf meinen Heimweg zu konzentrieren. Abwertende Floskeln schießen mir durch den Kopf. Vorurteile, die jeder Mensch unterbewusst und vergraben unter gutem Willen mit sich herumträgt. „Niemand muss so leben in Deutschland.“ „Gib ihnen nichts, sie wissen nichts Gutes damit anzufangen.“ „Jeder findet Arbeit, wenn er nur will.“ „Parasiten.“ Angestrengt versuche ich es zu leugnen, mir einzubilden, ich sei besser als mein oberflächliches und feindseliges Unterbewusstsein. Doch ich bin es nicht. Nicht einmal in der einen stillen Nacht im Jahr, in der ich es sein sollte.

Der Gedanke an meinen heißen Kakao löst Brechreiz in mir aus und mein Stapfen durch den Schnee wird zu einem unkontrollierten Stampfen. Wie konnte ich dermaßen warm angezogen und bei diesen Temperaturen blind an dem armen Teufel vorübergehen, ohne ihm wenigstens meine Jacke zu überlassen?

Mit einem leichten Gefühl des Ekels mir selbst gegenüber mache ich kehrt und jogge zurück in Richtung Unterführung. An der Treppe angekommen löse ich den Reisverschluss meiner Jacke, ziehe sie aus und gehe hinunter. Er ist weg. Keine Spur von dem armen Kerl, auch nicht auf der anderen Seite der Unterführung. Und mir wird klar, dass er diesen gottlosen Abend nicht überstehen wird.

So endet das eine und so beginnt ein neues Jahr. Mit einem Fest, das keines mehr ist. Mit einer heiligen Nacht ohne Morgen.

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