Schaufensterpuppe

Kurzgeschichte zum Thema Abhängigkeit

von  Isaban

Er schob sich durch den schmalen Spalt und sah in die Schwärze hinaus. Seine Augen tränten in der Nachtkälte und er zog seine Decke enger um die steifen Schultern. Schritt für Schritt arbeitete er sich den  vereisten Weg hinauf. Nach etwa hundert Atemzügen hatte er sein Ziel erreicht, vor ihm breitete sich das Dorf aus; sein großes, leeres Haus war trotz der dicken Schneeschicht auch aus dieser Entfernung noch gut zu erkennen. Sorgfältig legte er die Decke auf dem Plateau aus, faltete seinen Sonntagsanzug zu einem ordentlichen Haufen am Rande zusammen, ließ sich etwas ungelenk auf dem klammen Wollstoff nieder, wiegte sich sitzend vor und zurück und wartete darauf, dass die Eisengel ihn mitnehmen würden, vor und zurück, es konnte nicht mehr lange dauern. Hier oben musste er gut zu sehen sein.

„Da, das ist noch so einer. Siehst du, er weint schon wieder.“ Schwester Petra hievte zusammen mit dem neuen Pfleger  den alten Mann von seinem Fensterplatz aus zurück ins Bett. 
„Das ist das Einzige, was er überhaupt noch tut. Weinen und aus dem Fenster schauen. Die Besuchskinder nennen ihn Häuptling Triefauge.“
Schnell und effizient schob sie den Löffel mit dem nach Butter und  Zimt duftenden Milchreis zwischen die welken Lippen, ließ dem Senioren ein paar Sekunden Zeit, zu schlucken,  schabte dann die klebrigen Reiskrümel mit dem Löffelrand von Mundwinkel  und Kinn aus wieder zurück auf die Zunge, die anscheinend kaum noch wusste, wie sie mit derartigem Ballast umzugehen hatte und manchmal einfach stille lag, anstatt ihren Teil dazu beizutragen, dass die breiige Masse in den Rachen gelangte.  Auch während des Fütterns liefen lautlos Tränen über die faltigen Wangen.
„Keine Angst, dem tut nichts weh, der hat einfach nur den Faden verloren. Seit vier Jahren wische ich ihm jetzt jeden Abend die Nase trocken. Mach dir nichts draus, manchmal hat er sogar mich fast so weit, zu glauben, dass er doch noch was von dem mitkriegt, was um ihn herum passiert. Verpasst du ihm jetzt die frische Windel, oder soll ich das machen?“

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (11.12.11)
Trifft. Mitten ins Herz. Die Realität.
Lu ♥

 AZU20 (11.12.11)
Sehr realistisch. LG
ichbinelvis1951 (64)
(11.12.11)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Fabi (50)
(11.09.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Isaban meinte dazu am 17.09.14:
Ich will dir ja keine Angst machen, aber das ist Alltag in den Altenheimen und keiner von uns weiß heute , ob ihm sowas wirklich erspart bleibt.
Hab lieben Dank für deine Rückmeldung, Fabi.

Herzliche Grüße

Sabine
Marjanna (68)
(14.04.18)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Isaban antwortete darauf am 14.04.18:
Danke, Marjo.

Ich freu mich, dass der Text noch einmal aus der Versenkung aufsteigt.

Liebe Grüße

Sabine

 Buchstabenkrieger (17.08.19)
Hallo Isaban,

im Ganzen gefällt mir deine kleine Geschichte.

Der Anfang ist noch stark, hat mir Lust auf mehr gemacht. Dann leider, meine Meinung, fällt es ab.
Soll heißen: Ich hätte mir noch mehr über den alten Mann gewünscht, möchte mich in ihn reinversetzen, mit ihm fühlen, mich mit ihm freuen, mit ihm leiden.
Wie riecht der Schnee, wie fühlt sich der klamme Wollstoff an?
Ich denke, du verschenkst da einiges. Hätte mir seine Gedanken gewünscht, an früher, an die Zeiten, als es besser war etc.
So ist er wirklich nur eine Schaufensterpuppe und kein Mensch.

Titel ist absolut passend, wenn du alles Menschliche aussparen möchtest. Ich denke, das war auch deine Intention. Das ist dir gelungen.

Eine Geschichte allerdings, wie ich sie mir gewünscht hätte, wäre eine andere Geschichte. Aber sich was wünschen darf man ja :)

LG, Buchstabenkrieger
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram