Refugium

Kurzgeschichte

von  MrDurden

Eine eisige Dezembernacht bricht herein und durch das kleine Wohnzimmerfenster kann ich den Schneesturm beobachten, der draußen am Haus vorüberzieht. Zwei Teebeutel schwimmen in zwei Tassen mit heißem Wasser, die auf einem niedrigen Holztisch vor dem Kamin stehen. Das Orange der Flammen bricht sich in unseren Augen, während ich mit meiner Mutter über irgendetwas philosophiere. Und egal, wie sehr ich mich auf sie konzentriere, so verstehe ich doch kein einziges Wort aus ihrem Mund. Die Situation erscheint mir unwirklich, doch nichts kann mir dieses Gefühl der unendlichen Geborgenheit nehmen, das sie mir gibt. Und während wir diese Unterhaltung führen, die keine Unterhaltung ist, zieht plötzlich die Oberfläche des Tees meine Aufmerksamkeit auf sich. Das Wasser in meiner Tasse beginnt sich zu bewegen, beinahe hypnotisiert es mich. Es schlägt Wellen, zieht meinen Blick an wie ein Magnet und langsam wird mir schwarz vor Augen. Einige Sekunden lang sehe und höre ich nichts, bis ich salziges Wasser an meinen Lippen schmecke. Vorsichtig öffne ich meine Augen. Das kleine gemütliche Zimmer ist einem dunklen Ozean gewichen, der sich in alle Himmelsrichtungen einem unendlich weit entfernten Horizont entgegenstreckt. Blauer Himmel und warme Sonnenstrahlen spiegeln sich auf einer Wasseroberfläche, die keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint. Und ich spüre, wie mich Unsicherheit beschleicht. Es ist ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber der Übermacht einer Urgewalt. Plötzlich erkenne ich schwarze Gewitterwolken vor mir am Horizont. Rasch bewegen sie sich auf mich zu, während ich versuche zu schwimmen und ihnen zu entkommen. Doch die Strömung ist zu stark und ich treibe direkt in das Auge des Sturms. Im nächsten Moment taucht ein nebelartiger Schleier die gesamte Umgebung in gleißend helles Weiß. Und ich versuche mich von dieser Lichtquelle abzuwenden, während ich meine geblendeten Augen öffne.

Nichts ist zu erkennen außer grünen Umrissen und Sonnenstrahlen, die grell durch das dünne Glas der Fensterscheiben fallen und den Raum fluten. Es war ein Traum. Natürlich, was auch sonst. Leicht benommen und halbblind lasse ich die Couch hinter mir und wackle in Richtung Küche. Mit einem kritischen Blick auf die Uhr stelle ich murrend fest, dass meine Schreibpausen von Mal zu Mal länger werden und daran wird auch das kalte Leitungswasser nichts ändern, das ich mir gerade ins Gesicht klatsche. Was war das nur für ein seltsamer Traum? Und wie kommt es, dass sich dieser verlotterte, 35-jährige Berufsautor neuerdings im Detail an seine Träume erinnern kann? So viele Fragen, so früh am... Nachmittag? Ja, das Ausschlafen ist ein netter Nebenverdienst, den das Landen eines oder mehrerer Bestseller mit sich bringt. Zusammen mit einem gemütlichen und dennoch geräumigen Haus aus Eichenholz an einem malerischen See in Québec, Kanada. Mit ein paar guten Einfällen lässt sich heutzutage ein Lebenstraum eben doch noch erfüllen. Doch ich weiß, dass dieser Traum mir keine Ruhe lassen wird. Also ringe ich mich dazu durch, meinen Agenten und ältesten Freund Michael Sullivan anzurufen. Wird ohnehin Zeit, sich nach dem neuen Verlag zu erkundigen, von dem mir Mike seit Wochen erzählt. Ohne den alten Kettenraucher hätte ich es in der Branche nicht halb soweit gebracht. Wir haben eine Menge zusammen durchgemacht, aber sein momentaner Tabakkonsum bereitet mir ernsthaft Sorgen.

Besetzt. Wahrscheinlich ist der Gute momentan genauso produktiv wie ich. Egal, ein wenig zu schreiben wird Licht ins Dunkel bringen. Also schnappe ich mir Schreibblock, Bleistift und eine Tasse kalten, schwarzen Kaffee ohne Zucker, gehe nach draußen und setze mich am Ufer des Sees unter einen Baum. Was für andere Menschen das gelöste Gefühl nach einem harten Arbeitstag oder die innere Euphorie nach einer kleinen oder großen Leistung ist, war für mich seit ich denken kann das Schreiben. Selbst wenn man alles verliert und nichts bleibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt, hat man Worte, mit denen man Welten erschaffen kann, die jenseits aller Vorstellungskraft liegen. Einen Ort der Sicherheit und des Rückzugs, ein Zuhause, das niemand außer man selbst kennt. Ein Refugium. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und die schlechten Zeiten liegen hinter mir. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, angekommen zu sein. Und die Spitze des Bleistifts zeichnet die Kullisse eines Traums auf das Weiß des Papiers, den niemals ein anderer Mensch träumen wird.

Sieben Jahre vergehen. Nicht zu glauben, dass das nur sieben Jahre waren. Vorsichtig öffne ich meine Augen und bete, dass dieser Lebensabschnitt auch nur ein merkwürdiger Traum war. Ich bete darum, auf der Couch im Wohnzimmer meines gemütlichen und dennoch geräumigen Hauses aus Eichenholz an diesem malerischen See in Québec, Kanada aufzuwachen. Doch wie jeden Tag wache ich nicht in einem Traum auf, sondern in der Realität. Es ist 14:00 Uhr und meine Pause von nicht mehr und nicht weniger als 30 streng kalkulierten Minuten neigt sich ihrem Ende zu. Schon vor Jahren hat sich mein Rücken der klapprigen Bierbank der Kantine mehr oder weniger angepasst und einen Wecker brauche ich dank guter alter Routine seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr. Verschlafen und mit zerknirschtem Blick gehe ich die Treppe hinunter in Richtung Fertigungshalle. Zwischen riesigen Schmelzöfen, Säurebecken und gröhlenden Arbeitskollegen arbeite ich für einen der größten Hersteller von Kugellagern der Welt mit Sitz in Detroit, Michigan und verdiene einen Stundenlohn, über den man nicht meckern kann. Mit anderen Worten tue ich das, was ich niemals tun wollte an einem Ort, an dem ich nie sein wollte. Während ich wieder an die Arbeit gehe, muss ich an meinen Freund Mike denken. Daran, wie ich vor vier Jahren an seinem Sterbebett gesessen habe, während er seinen Kampf gegen den Lungenkrebs verlor. Ich muss an seine Beerdigung denken und an den Trottel, der ihn als mein Agent ersetzen sollte. Der Trottel, der meine besten Geschichten zu den schlechtesten Preisen an die falschen Leute verscherbelte, mich mit undurchsichtigen Vertragsklauseln und juristischem Geschick über den Tisch zog und letzten Endes selbst stinkreich wurde. Und ich denke an mein Haus in Kanada, an mein Zuhause, das ich im finanziellen Notstand verhökern und gegen eine Zwei-Zimmer-Wohnung in der verseuchten Vorstadt von Detroit eintauschen musste.

Morgens um 05:00 Uhr aufzustehen, meinen achtstündigen Arbeitstag abzubuckeln, den Haushalt auf die Reihe zu bekommen und abends vor der Glotze einzuschlafen, das alles stellt kein größeres Problem für mich dar. Es ist nicht schwer zu tun, was man tun muss, um Rechnungen zu bezahlen, sich in die Gesellschaft einzufügen und den eigenen körperlichen, mentalen und seelischen Verfall voranzutreiben. Das Schwierigste ist die Selbstaufgabe für etwas, das man nicht ist. Das Schwierigste ist die Aufgabe eines sicheren Ortes, einer Welt der Geborgenheit. Das Schwierigste ist es, Worte zu finden, wenn man nur das besitzt, was keiner Worte bedarf. Wenn man nichts hat, wofür Worte sich zu finden lohnen. Das Schwierigste ist es, einen Ort neu zu erschaffen, den man verloren hat. Einen Ort, der unwiderruflich von allen Karten gelöscht ist. Das Schwierigste ist das Erschaffen eines Refugiums.

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