Wegweiser

Erzählung zum Thema Andere Welten

von  Mac

Meile für Meile zog sich die Landstraße auf diesem Eiland im Atlantik von Nord nach Süd. Es war August und die Sonne brannte ungewöhnlich heiß, selbst für diese Jahreszeit. Ab und zu verschaffte eine sanfte Brise vom Golfstrom ihm etwas Kühlung und spielte mit seinen Haaren. Seine friedlichen Gedanken genießend, die wie ein sanftes Tuch sein Gesicht bedeckten, wendete er seinen Kopf und sah nach seiner Freundin, die gedankenverloren etwa dreißig Meter hinter ihm wanderte. Auch ihre Gestalt drückte Frieden aus. Es war gut, hier zu sein. Als er wieder nach vorne schaute, sah er vor sich Lichtkorridore oder Lichtfinger, die vom hellblauen Firmament zu den einsamen Buchten des Atlantiks griffen. Teils tauchten sie ins Wasser, teils griffen sie aufs Land. Sie verschwanden und kehrten zurück. Dann stabilisierten sich diese Phänomene. In Insiderkreisen wurde manchmal hinter vorgehaltener Hand über Ereignisse auf diesem Eiland erzählt, aber es war zu phantastisch, um glaubhaft zu sein. War er vielleicht jetzt Zeuge einer dieser Abnormalität im Raum-Zeit-Gefüge?

Jetzt erst bemerkte er den Typ, der locker, lässig am Brückengeländer eines kleinen Baches lehnte. Es musste ein Mann sein, obwohl dieser lange, Dunkel gelockte Haare hatte und seine Kleidung ziemlich fremdartig war. Der Unbekannte trug einen langen, beige-weißen Rock, der an den Seiten bis zu den Knien geschlitzt war. Ein in derselben Farbe gehaltenes Oberteil, das Ähnlichkeit mit einem xxl-muscleshirt hatte, bedeckte seinen Oberkörper bis über die Hüften. Der Körper strahlte eine friedliche Selbstsicherheit aus. Der Mann musste eine starke Persönlichkeit sein.
Er mochte solche Typen. Menschen, die ihr Leben auf ihre Art und Weise durchzogen. Ohne Rücksicht auf Moden oder Launen der jeweiligen Zeitströmungen. Wenn man sie näher kannte, bekam man meistens eine wunderbare Geschichte zu hören über ein facettenreiches Leben. Ohne Selbstlob, eben nur eine wahre Story.
Er wechselte die Straßenseite und befand sich nur noch zwanzig Schritte von dem Fremden entfernt. Die magnetische Ausstrahlung des Unbekannten beschleunigte seinen Gang. *Boah, er kannte ihn. Tief in seinem Inneren erkannte er den Fremden. Das war doch nicht möglich. Das konnte doch einfach nicht sein!"
Der Fremde schaute ihn lächelnd an und dann entdichtete sich sein Körper. Der Unbekannte war einfach verschwunden. Das Eiland lag friedlich vor seinen Augen, der Himmel war strahlend blau, nichts, absolut nichts mehr von den Ereignissen vorher zu sehen. Er blieb stehen und wartete auf seine Freundin. Sie schaute ihn lächelnd an. "Schöner Tag heute, nicht wahr. So klar und friedlich. Irgendwie grenzenlos“, bemerkte sie und deutete in Richtung Horizont. Sie hatte also nichts bemerkt. "Richtig“, antwortete er mehr mit einem gezwungenen Lächeln, "aber heiß. Ich kenne einen Pub zwei Meilen entfernt. Lasst uns dort etwas trinken." Sie nickte und sie machten sich auf den Weg. War er einem Trugbild aufgesessen?

Vier Wochen später war er wieder auf diesem Insel. Dieses Mal alleine. Seine Freundin war zurück geflogen nach Deutschland. Sie hatte ihn nicht überreden können mit zu kommen. "Meine Zeit hier ist noch nicht zu Ende“, hatte er versucht ihr zu erklären. Sie hatten sich nicht gestritten, doch jeder wusste, dass dies wahrscheinlich das Ende ihrer Beziehung war.
September und schon wieder so heiß. Die wenigen Insulaner, die er traf, murrten über das Wetter. Sie
sehnten die kühlen Passatwinde herbei. Unbewusst schlenderte er wieder über diese Nord-Süd-Tangente. "Er hatte ja auch nicht viele Straßen zur Auswahl“, dachte er lächelnd, als er sein Gehen bemerkte.
Die Lichtlanzen bemerkte er jetzt sofort. Er wurde hellwach. Wieder dieses Abtasten des Lichts über dem Land und der See. "Scotty, beam me up", dachte er und musste doch innerlich grinsen.
Als er die Gestalt wieder an dem Brückengeländer stehen sah, noch königlicher, noch edler als beim ersten Mal, beschleunigte er seine Schritte und wechselte die Straßenseite. Er hatte tausend Fragen. Und er würde fragen, ja, da war er sich sicher. Im Näher kommen bemerkte er einen Unterschied in der Kleidung des Mannes. Ein silberner Streifen umborderte den Rocksaum des Fremden. "Vom Wanderer zum König“, schoss es ihm durch den Kopf. Die Gestalt schaute ihn lächelnd an, als er herbeieilte. Der Fremde nickte leicht mit dem Kopf, hob grüßend die Hand und.... verschwand.

Wie verwurzelt blieb er stehen. Nein, dass würde er nicht mehr vergessen. Das wusste er. Tief horchte er in sich hinein. "War er enttäuscht“, Nein, bemerkte er. Frieden spürte er aus seinem Innern durch seinen Körper strömen. Mehr als Frieden. Er war glücklich. Doch ein Anflug von Dissonanz war auch dabei, wie er
erschrocken feststellte. Ein Gefühl, das er normalerweise nicht kannte.

Er war etwas neidisch. Jesus hatte viel schönere Haare als er.

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