Es ist schwierig etwas über Sehnsucht zu schreiben

Essay zum Thema Sehnsucht

von  tulpenrot

Wenn Papier weiß bleibt, noch nicht einmal eine rosarote oder blassblaue Überschrift trägt, auch nicht dünnschwarz umrandet ist, nur unberührt weiß, dann hat man nichts geschrieben. Nichts über leise Erinnerungen oder einen gemächlichen Trauerzug, nichts über himmelstürmende Ideen oder wolkenschiebende Gefühle. Nichts über Sehnsucht. Ich habe nichts geschrieben. GAR NICHTS.

Das ist anders als eins minus eins gleich null. Wie der Tod. Wie der Tod? Eher nicht wie er. Er ist zwar eine Kraft, die eine Eins zu einer Null werden lässt, die alles auslöscht. Doch zuvor war da etwas, dessen man habhaft werden, das man umreißen konnte: seine Endgültigkeit, seine erbarmungslose Kälte, seine manchmal erlösende Funktion. Man stirbt daran, geht daran zugrunde. Aber bis dahin hat man etwas zur Verfügung, was ein Papier füllen könnte. Vielleicht auch zwei oder mehr, bevor es zu Ende geht mit einem. Sich Gedanken zu machen über das Gar-nichts-schreiben, das ist anders. Widersinniger.

Ich müsste eigentlich unleserliche Buchstaben auf durchsichtiges Papier oder auf einen hauchdünnen Schleier ohne Struktur bringen. Am besten sogar Buchstaben gleich in die Wolken malen, dass sie zerlaufen wie sie. Buchstaben – auf keinen Fall Wörter – die nichts bedeuten. Die das NICHTS bedeuten. Oder NICHTS auf eine Glaswand NICHT schreiben. Das wäre dem Nichtgeschriebenen adäquat.

Dummerweise stößt man sich versehentlich an Wänden aus Glas, weil man sie nicht ohne Weiteres sieht; wenn nichts darauf steht. Wie ein verirrter Vogel, der gegen eine Scheibe flattert, weil nichts ihn warnt. So wie ich mich an dem weißen Papier stoße, weil nichts darauf geschrieben ist. Das Nichts umschreiben kann man nur durch Wortlosigkeit. Das wäre folgerichtig: vollkommenes endloses Schweigen. Also dürfte ich noch nicht einmal schreiben, dass ich nichts geschrieben habe, sondern schweigen. Hier ist ja auch niemand zum Reden. Aber Papier und Stifte zum Schreiben wären da. Aber keine Glaswand, kein Schleier und keine Wolken. „Schade“, meint Jonathan, mein Lyrikfreund. Finde ich auch.

Ich schnäuze mir zunächst einmal die Nase. Seit Tagen bin ich stark erkältet, sogar meine Stimme versagt. Das ist gut so, denn ich kann nun am eigenen Leib erleben, wie es ist, wenn man sich in den Nichtsräumen bewegt: nichts sprechen können ist fast so, wie nichts schreiben können, letzteres ist sogar schlimmer. Und das wiederum ist so, wie keine Sehnsucht haben dürfen. Das Schlimmste. Innerlich wie getötet, abgeschnitten worden sein. Ins Leere greifen. Und doch ist etwas da. Einfach so. Quirrlig. Unruhig. Unfassbar. Es streunt noch herum, weiß nicht, wohin es will. Wohin es gezogen wird. Es zieht nur so richtungslos im Innern. Daher kann ich wohl nichts schreiben. Keine Geschichte, keine Erzählung. Nur über Glaswände oder Wolken oder Schleier kann ich schweigen, über Durchsichtiges, sich Auflösendes, Strukturloses.

Schweigen, weil ich nicht weiß, wann dieses Unfassbare begonnen hat zu existieren. Schweigen, weil ich ihm keine Überschrift geben, es auch nicht benennen könnte. Aber existiert es dann auch nicht? Habe ich es totgeschwiegen? Seltsam: Es lebt trotz des Schweigens. Ich spüre es, weil es sich in mir wie ein Wurm krümmt, der unzufrieden ist, der sich hinauswinden möchte. Ich spüre ihn links unterhalb des Herzens, seitlich des Magens. Genau da. Da!

Vielleicht hilft die Suppe, die ich mir nebenbei gekocht habe. Es soll Tomatensuppe sein. Mit Käsegeschmack. Eigentlich meine Lieblingssuppe. Ich probiere sie. Sie schmeckt, wie Tütensuppe nun mal schmeckt: geradeaus und salzig. Kein Genuss. Ich streue zusätzlich Käse darüber. Dann schmeckt sie wenigstens nach dem Päckchenkäse. So ein ganzes Päckchen auf ein ganzes Tütchen und obendrein vier Zentimeter Tomatenpaste aus der Tube. Für mein Verlangen nach Tomaten-geschmack. Sehnsucht?
Ich lebe allein. Unter lauter Leuten, die sicher unbeschwert sind und sicher keine Suppen aus Tüten zubereiten. Vermute ich.

In der renovierten Jugendstilvilla jenseits der Straße zum Beispiel wohnt eine junge wohlsituierte Familie mit zwei Kindern. Jetzt im Advent sind ihre Fenster geschmückt. Draußen im Garten an den Büschen funkelt eine Lichterkette. Die Obstbäume strecken ihre säuberlich geschnittenen Äste aus. Die Hausfassade ist frisch blassgrün gestrichen, die Fensterrahmen heben sich weiß ab, die Fensterläden rostrot. Sehr geschmackvoll, finde ich. Und die Menschen darin einfach glücklich. Sehnsuchtslos glücklich, denke ich.
Heute traf ich die junge Mutter beim Spaziergang mit den beiden Kindern. Das größere Mädchen geht schon zur Schule. „Unser Religionslehrer hat es schwer in der Klasse, er kann sich nicht durchsetzen und nicht so locker sein, wie er möchte.“ Sie spricht wie eine Erwachsene in gewähltem Hochdeutsch und ist erst etwa sieben Jahre alt. Ihr Vater hat neulich aus dem Kinderzimmerfenster zu mir herüber-gewunken. Man muss ja zwangsläufig zufrieden und glücklich sein, wenn man mit so einem winkenden Ehemann verheiratet ist und kluge Kinder hat, glaube ich.

Ich wäre es auch, wenn ich so leben könnte wie sie. Meine Sehnsüchte haben Namen, lange Namen: „Zwanzig-eigene-Wände-in-einer-Jugendstilvilla“, „Fünf-kluge-Kinder“, „Zwanzig-Kilo-weniger“ und „Einen-winkenden-Ehemann“. Glück. Aufzählbar. Benennbar. Das mit der Wohlsituiertheit spar ich aus. Ich bin bescheiden.

Jetzt ist es raus. Schwarz auf weiß schaut es mich an. Ich wollte es nicht preisgeben. Nein, nicht das. Nicht so etwas, was Lieschen Müller auch schreiben würde: von der Sehnsucht nach dem „großen Glück“, nach dem einzigartigen, gut aussehenden, erfolgreichen Ehemann. Danach, sich etwas leisten zu können und nach weniger Speck auf den Rippen.
„Alle lallen doch geradezu vor Sehnsucht“, meint Jonathan abfällig. „Jeder billige Songwriter schwärmt von Sehnsucht, von der Liebsten, die so fern, gestorben oder untreu. Jeder billige Poet jammert sein Papier voll. Elendes pubertäres Geschwätz!“, schimpft er.

Billiges? Pubertäres? Nein, nicht von mir. Also radiere ich alles wieder aus. Schreibe lieber nichts. Lösche. Auch meine Sehnsüchte, weg damit. Kühler Kopf. Kein Herzflattern, noch nicht einmal ein hundsgemeiner Herz-Schmerz, keine schlaflosen Nächte. Seelenstill. Einfach nichts. Ruhe, ohne Sturm. Es stürmt nur draußen. Wenn Sehnsucht so schmalzig ist, will ich nichts damit zu tun haben. „Gelalle sagst du dazu. Gejammere. Kommst du ohne sie aus, mein lieber Jonathan?“

Ist Sehnsucht denn nicht die Kraft, die uns Menschen mit allerlei Ideen zu Taten antreibt, die uns träumen und Träume verwirklichen lässt, die auch bemerkenswerte Texte hervorbringt? Etwas für den einfacheren Geschmack wie einen Tagebucheintrag von Lieschen Müller. Oder etwas für den anspruchsvollen Leser aus der Feder eines kunstvoll formulierenden Poeten. Vielleicht bin ich so dazwischen. „Pubertäres Geschwätz“, hallt es mir wieder in den Ohren. Das trifft mich.

Ob es wohl einen Zustand gibt, wo Sehnsucht noch ganz dünn wie ein Schleier, ganz zerbrechlich, durchsichtig wie eine Glaswand ist? Wo man sich noch nichts vorstellen oder es gar benennen kann. Wie vielleicht in jugendlichen Jahren erlebt und dann verdrängt, vergessen, oft überspielt, bis es ungehört versinkt und womöglich nie mehr auftauchen durfte. Bei Jonathan zumindest. Vermute ich. Er ist alt.

Vielleicht deswegen gelingt es ihm nicht mehr, den flüchtigen Moment zu erfassen, wo alles noch offen ist, wo man sich noch nicht festgelegt hat. Die Spannung, das Unerhörte, das vor einem liegt, vor dem Wunsch nach der ersten Begegnung, dem leidenschaftlichen Kuss, dem Traumhaus. Den Moment zu beschreiben, wo der Pfeil noch nicht einmal auf der gespannten Sehne liegt, sondern im Köcher ruht, bevor die Hand ihn greift und zielt. Vielleicht ist er wirklich schon zu alt. Und ich?

Ich beginne mein Inneres zu zerkleinern, zu mineralisieren, zu durchforsten, meine Seele zu erforschen, um so ein Zartes, dem Nichts Nahestehendes in mir zu finden. Dem Zustand nahe zu kommen, wenn ich von den Sehnsüchten noch nichts Genaues weiß, sondern nur dieses vibrierende, flattrige, nebelhafte, flirrende Gefühl in mir trage und kaum ahne, wohin es mich bringt. Kann man solche Millimetererfahrungen auch in anderer Hinsicht überhaupt wahrnehmen, so feinsinnig sein, so empfindsam leben, so kompassnadelartig sich und die Welt erspüren?

Was wäre zum Beispiel, wenn die Ärztin heute gemerkt hätte, wie sehr sie mir wehtat mit ihrer Betäubungsspritze, bevor sie eine Gewebeprobe entnahm? Wie wäre es, wenn ich beim täglichen Bahnfahren alles aufmerksam lesen wollte, was ein anderer in seiner Zeitung mir vor die Nase hält? An jeder Haltestelle neu überlegen müsste, ob ich aussteigen soll oder nicht? Wenn alle Gemütsbewegungen intensiv nabelbeschaut würden, was wäre dann? Das ergäbe so viele Eindrücke und Entscheidungsmöglichkeiten, die ich nicht mehr ordnen oder gar bearbeiten könnte. Abstumpfung hat sein Gutes, Entlastendes.

Wie mühelos kann man zudecken, ersticken, was einmal tief im Innern als zarte Sehnsucht atmete? Lässt sie sich so ganz unbemerkt mit leichter Hand wegwischen, übersehen, überhören? Vielleicht dann, solange sie noch kein tosender Sturm ist, den niemand mehr zu beschwichtigen vermag, dem man nicht mehr widersprechen kann, solange sie noch leise ist und ihre Namen nicht herausschreit. Wenn sie in einem Zustand verharrt, der noch rein und unbescholten, durch keine Bezeichnung eingeengt, alles beinhaltend und unbegrenzt von jeglicher Begrifflichkeit ist. Alle Möglichkeiten sind offen, keine Richtung ist vorgegeben. Paradiesischer Urzustand. Wie ein unbewohnter Rohbau. Oder eher wie ein wildes lebendiges Land. Was kann man nicht alles daraus machen! Und es drängt uns Menschen, diese Möglichkeiten auszuloten und auszuprobieren. Tragen wir nicht alle ein solch wertvolles Grundstück in uns, ein unbebautes, unbepflanztes Stückchen Himmel auf Erden, das Verlangen nach Gutem, Schönem, Vollkommenem? „Spürst du es wirklich nicht mehr, Jonathan?“

Ich werde erst einmal meine Suppe essen und danach unter mein Pflaster schauen, das die Ärztin mir aufklebte. Es ist so warm darunter, als ob sich etwas entzündet hätte. Eigentlich bin ich nicht zu ihr gegangen, um Schmerzen zu haben und krank zu werden. Sie sollte auf meine Gesundheit bedacht sein. Schließlich will ich noch Wolken verschieben, den Himmel erstürmen, mein Innenland bebauen und mein Schweigen immer wieder brechen. Wie jetzt, wo inzwischen drei beschriebene Seiten vor mir liegen. Möglicherweise werfe ich von den drei Seiten zwei in den Papierkorb, nachdem ich meine Suppe gelöffelt habe, oder auch nur eine Seite, vielleicht auch alles. Das könnte durchaus sein. Aber ich kann mir nicht mehr vorwerfen, ich hätte nichts geschrieben. Über Sehnsucht.


Anmerkung von tulpenrot:

Von der Schwierigkeit, etwas über Sehnsucht zu schreiben

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (16.01.12)
Da ist dir aber trotz der Schwierigkeiten viel zum Thema eingefallen und das lohnt das Lesen allemal. LG

 tulpenrot meinte dazu am 16.01.12:
Lieber Armin, Danke für dein Lesen und deine Einschätzung! PN ist 7unterwegs.
Liebe Grüße
Angelika

 princess (16.01.12)
Hallo Angelika,

das ist ein Text, der sich wie von selbst zu entwickeln scheint. Hierhin, dorthin. Jeweils mit der aktuellen Aufmerksamkeit hüpfend. Und es macht mir Freude, mit zu hüpfen. Hierhin, dorthin. Ich könnte nicht mehr sagen, was ich soeben noch las. An Nichträume erinnere ich mich. Und an das Schnäuzen der Nase. Und dass du schriebst von der Schwieriglkeit, etwas über die Sehnsucht zu schreiben. Vielleicht sogar auch von der Sehnsucht, etwas über die Sehnsucht zu schreiben. Mhh.

Es war mir ein Vergnügen.

Liebe Grüße, Ira

 tulpenrot antwortete darauf am 16.01.12:
Liebe Ira, das wäre ja dann dem Thema gemäß: ein Herumstreunen, ohne genau zu wissen, wo man landet. Und wenn du dann am Ende gar nichts weißt, dann ist das geradezu beabsichtigt - es war aber dennoch unterhaltsam? Dann ist es gut. Danke für deine Geduld, diesen für kv Verhältnisse langen Text zu lesen und mir eine Rückmeldung zu geben.
Liebe Grüße
Angelika
baerin (53)
(16.01.12)
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 tulpenrot schrieb daraufhin am 17.01.12:
Guten Morgen Chris,
die Sehnsucht nach einem Gefährten hat ja dann schon einen Namen, eine Richtung!!! Ich dachte immer, das Thema müsste noch weiter davor anfangen.
Aber du hast Recht, man könnte es sich einfacher machen. Vielleicht schreibe ich noch eine dritte Geschichte. Eine völlig andere ist gerade auch in Arbeit (die wird hier nicht veröffentlicht) - aber du bringst mich auf eine neue Idee. Dein "du kannst es" - das mit dem Geschichten erzählen - macht mir Mut. Danke.
LG
Angelika
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