Alan - Teil 2

Kurzgeschichte zum Thema Kinder/ Kindheit

von  MrDurden

Der Fluss verschwindet im leichten Herbstnebel hinter mir und ich spaziere in Richtung Stadt. In der Einkaufstraße besteht der Boden aus großen Steinplatten. Und manchmal, wenn niemand hinsieht, springe ich von Platte zu Platte und zähle sie. Leider muss ich bei zehn immer von vorne anfangen, denn weiter kann ich noch nicht zählen. Rechnen ist was für Schlauköpfe. Ich mag lieber Geschichten und Wörter und in meinem kleinen Lederbuch steht mittlerweile schon recht viel. Meine Mutter sagt immer, dass ich unbedingt alles zu Ende bringen muss, was ich angefangen habe. Denn sonst bringt es irgendwann mich zu Ende. Ich bin mir nicht sicher, was das bedeutet. Vielleicht muss ich einfach das Buch vollschreiben. Und vielleicht schaffe ich das heute sogar.

Während dem Laufen und Springen kann man nicht gut Menschen und Dinge beobachten. Also setze ich mich auf eine der Kaufhaustreppen sehe mich um. Viele Leute hier tragen Anzüge und Krawatten. Die gefallen mir, weil die Menschen dadurch aussehen, als wären sie groß und stark, auch wenn sie nur ganz schwach sind. Wenn ich älter bin, kaufe ich mir Anzug und Krawatte und rette Menschen, die in Not sind. Wie ein Superheld. Meine Mutter sagt immer, dass es Superhelden wirklich gibt. Sie sehen nur nicht so bunt aus, wie in den Filmen. Und so große Muskeln haben sie auch nicht. Aber es gibt sie. Also halte ich nach Superhelden Ausschau und tatsächlich bekomme ich einen zu sehen.

Ein großer, starker Mann in Anzug und Krawatte auf der anderen Straßenseite. Er trägt einen Aktenkoffer und vielleicht wartet er dort drüben auf den Bus. Vielleicht wartet er auch nur auf einen Verkehrsunfall, um dann die Leute retten zu können. Oder er hat das Fliegen verlernt und ist jetzt auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen.

Ich sehe nach links und nach rechts, dann renne ich über die Straße und stelle mich hinter den Mann. Er tut so, als hätte er mich nicht bemerkt, also zupfe ich an seiner Hose. Doch er bewegt sich nicht. Vielleicht hat ein Superschurke ihn mit seinem Superblick zu Stein erstarrt. Oder sein Geist wurde in einer anderen Dimension gefangen genommen. Eine ganze Weile lang blicke ich zu ihm hoch und plötzlich sieht er zu mir herunter. Er fragt mich, wo denn meine Eltern seien. Auf der Straße herumzurennen sei für einen kleinen Jungen wie mich doch viel zu gefährlich.

„Meine Mutter sagt immer, dass diese große, weite Welt nur so unheimlich gefährlich ist, weil alle Menschen Angst vor ihr haben. Aber man soll keine Angst haben, denn Angst hält uns nur davon ab, das richtige zu tun.“

Ein paar Sekunden lang starrt mich der Superheld regungslos an, richtet seine Augen dann wieder geradeaus und verfällt wieder in diese unheimliche Starre. Er murmelt etwas von dummen Kindern und Respektlosigkeit, dann wird er wieder stumm. Vielleicht ist er krank und kann sich deshalb nicht bewegen. Vielleicht tut ihm Bewegung weh oder seine Mutter hat ihm nie das Laufen beigebracht. Und nun muss er hier stehen, bis ein anderer Superheld in Anzug und Krawatte kommt und ihm hilft. Also beschließe ich, weiterzugehen.

Die Einkaufstraße sieht aus wie ein großer, plattgemachter Ameisenhaufen. Überall bewegt sich alles und jeder trägt etwas mit sich herum. Nur der starre Superheld rührt sich nicht vom Fleck. Vielleicht hört er auf den Rat meiner Mutter und hat jetzt nicht mehr so viel Angst davor, sich in die Lüfte zu schwingen und das richtige zu tun. Und hoffentlich wird er bald wieder gesund.

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