Alan - Teil 5

Kurzgeschichte zum Thema Kinder/ Kindheit

von  MrDurden

Erschöpft von meiner Reise komme ich zu Hause an. Meine Mutter sagt immer, dass ich den Wohnungsschlüssel auf keinen Fall verlieren darf, sonst können fremde Menschen zu uns kommen und uns alles nehmen, was wir haben. Wir haben nicht viel, aber mein Gameboy und die Legofiguren dürfen auf keinen Fall in die falschen Hände geraten. Nur eine kleine, morsche Holztür trennt den Hof unseres Wohnblocks von der lauten Straße. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, komme ich gut an das Schloss der Eingangstür. Nur den Schlüssel nicht stecken lassen und auf geht’s mit dem Aufzug in den zwölften Stock. Die Uhr zeigt zwölf Stunden. Oder waren das vierundzwanzig? In sieben Jahren bin ich zwölf Jahre alt. Dann darf ich Filme sehen, die ab zwölf Jahren freigegeben sind.

Da bin ich, zwölfter Stock, die Aufzugtüre öffnet sich. Heute habe ich so viele Menschen und Dinge beobachtet, dass nur noch eine einzige Seit leer ist in meinem kleinen Lederbuch. Ein dunkler Flur mit unzähligen Türen streckt sich einem hellen Leuchten entgegen. Das kleine Fenster, das ein bisschen Himmel in unser Haus lässt und das ich schon kenne, seit ich auf der Welt bin. Meine Mutter sagt immer, dass es nichts wichtigeres im Leben gibt, als Träume zu haben. Denn es gibt unendlich viel Himmel auf der Welt und schon ein winziges Stück davon reicht für einen Traum, der die Welt für immer verändern kann.

Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle, komme ich gut an das Schloss unserer Wohnungstür. Nur den Schlüssel nicht stecken lassen und auf geht’s zu meiner Mutter. Ich lege mein kleines Lederbuch auf das Tischchen neben ihrem Bett. Ihr Bett ist größer und höher als die Betten der meisten anderen Mütter. Es hat weiße Metallstangen an den Seiten, damit sie nicht im Schlaf runterfallen kann. Viele blinkende Geräte sind daran festgemacht und es gibt sogar einen Knopf, der nette, helfende Männer ruft, wenn es meiner Mutter nicht gut geht. Als sie noch wach war hat meine Mutter immer gesagt, dass ich einfach den Knopf drücken soll, wenn ich jemanden brauche, denn ein Zimmer in einem Krankenhaus können wir beide uns nicht leisten. Das hat irgendwas mit einer Versicherung zu tun oder so.

Manchmal setze ich mich nach dem Kindergarten stundenlang neben meine Mutter und erzähle ihr Geschichten. Manchmal von krächzenden Möwen und flüssigen Flussschlangen. Und manchmal von den Menschen und Dingen, die ich jeden Tag beobachte. Es gibt arme Menschen, reiche Menschen, manche sind hübsch und manche sind schon viele Hundert Jahre alt. Und wenn man sie nur gut genug beobachtet, sieht man, dass keiner wie der andere ist.

Bis die Sonne untergeht lese ich meiner Mutter aus dem kleinen Lederbuch vor. Sie schläft schon seit langer Zeit. Aber vielleicht kann sie meine Geschichten hören. Vielleicht wacht sie eines Tages auf und erzählt mir dafür Geschichten von ihren Träumen. Vielleicht sagt sie mir dann wieder, dass ich nicht trödeln oder mit fremden Leuten reden soll, und dass ich nur alleine bin, wenn ich im Herzen alleine bin.

Egal, wie viele Worte ich mir vorstelle und wie viele Menschen und Dinge ich auch treffe, die letzte Seite meines kleinen Lederbuchs bleibt doch immer leer. Vielleicht schreibe ich etwas darauf, das meine Mutter immer gesagt hat. Sie sagte, es würde keine Rolle spielen, wie weit weg sie eines Tages gehen würde. Denn trotzdem wäre immer etwas bei mir, das Acht auf mich gibt.

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