Grenzgänger - Teil 1

Kurzgeschichte zum Thema Welten

von  MrDurden

Schwarzer Kaffee, zwei Tassen, kein Zucker, keine Milch. Wie jeden Morgen um 06:00 Uhr führen wir unseren verschlafenen Körpern bitter notwendige Koffeindosen in Form dieser aromatischen und pechschwarzen Nierenkrebsflüssigkeit zu. Kein Frühstück, denn wir frühstücken nie.

Es ist Freitag und trotz meiner atheistischen Überzeugungen danke ich Gott auf Knien dafür. Während ich mit zusammengekniffenen Augenlidern versuche, das noch viel zu heiße Getränk über meine Lippen zu bekommen, schaltet Grace den Nachrichtenkanal ein. Ich hasse diese Kiste, besonders am frühen Morgen. Ich hasse sie morgens, mittags und abends. Jedes Mal ein bisschen mehr, sobald die funkverzerrten Stimmen von zweitklassigen Moderatoren, drittklassigen Schauspielern und viertklassigen Synchronsprechern unser trautes Heim fluten und meine Gehörnerven penetrieren. Trautes Heim, der Nachrichtensprecher scheint da anderer Ansicht zu sein, und wir können es ihm nicht verdenken. Lawton Street in Core City, ein üblerer Fehlgriff hätte uns beim Umzug nach Detroit wohl nicht passieren können.

Die nackten Wände sind dünn wie Pergament. Streitereien, Prügeleien und hysterisches Kindergeschrei, rund um die Uhr und unausweichlich wie aus angenähten Kopfhörern. Zehntes Stockwerk des zehnten Wohnblocks der dunkelsten Straße des dunkelsten Stadtteils. Doch meinen Job als Zollbeamter der United States Border Patrol konnte ich wegen einer kurzfristigen Versetzung von Buffalo in New York an dieses Ende des Lake Erie nicht aufgeben. Die Bezahlung in Detroit ist durch eine Gefahrenzulage überdurchschnittlich hoch und immerhin ist Core City nur eine Übergangslösung. Gracey und ich werden bald etwas besseres gefunden haben. Und wenn man dem Kerl im Fernsehen Glauben schenken kann, sollten wir uns damit nicht allzu viel Zeit lassen.

In eine Decke gehüllt sitzt Grace auf dem Sofa, klammert sich an ihre Kaffeetasse und starrt auf den Bildschirm. 67er Camaro, rot und mit auffälligen Rostflecken am Heck, gestern Abend in unserer Nachbarschaft als gestohlen gemeldet. Hinweise an die örtliche Dienststelle des Detroit City Police Department. Wohl nicht weiter tragisch, wenn man dem folgenden Bericht Aufmerksamkeit schenkt. Es ist bereits der dritte Fall in diesem Monat, die Vorgehensweise des Täters hat sich jedoch nicht verändert. Graceys Mund steht leicht offen und beinahe verschüttet sie ihren Kaffee. In zehn Jahren bekommt man als Beamter an der Grenze nach Kanada Dinge und Schicksale zu sehen, die man sich unmöglich vorstellen kann. Doch auf die Brutalität einer solchen Detroiter Mordserie kann man nicht gefasst sein.

„Das war keine fünf Blocks von hier entfernt, Jake. Wir müssen hier verschwinden. Versprich mir, dass wir bald hier verschwinden, Jake.“

Wenn sie mich beim Vornamen nennt, kann ich mir sicher sein, dass sie es todernst meint. Schon nach unseren ersten drei Tagen in dieser Stadt bat sie mich, ihr mein Klappmesser zu überlassen und trägt es seitdem immer bei sich. Schlagstock, Messer und 9mm Handfeuerwaffe gehören zwar zur Pflichtausrüstung eines Grenzbeamten, doch bisher hatte ich das Glück, nichts von alledem je gebrauchen zu müssen. Ich beruhige sie, wie ich es immer tue, trinke meinen Kaffee aus und ziehe mir meine Jacke über.

„Lass das Mistding nicht zu lange laufen, Süße. Wir sehen uns heute Abend.“

Zerknirschtes Lächeln, langer Kuss, Klaps auf den Hintern. Und ein kurzer Schauer jagt mir über den Rücken, als ich das Messer in ihrer Tasche spüre. Kein Frühstück, denn wir frühstücken nie. Nur Graceys süßer Geschmack und pechschwarzes Nierenkrebsaroma auf meinen Lippen. Dunkler als der finsterste Teil einer verkommenen Stadt. Core City in Detroit, Michigan. Wir müssen hier verschwinden.

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