Grenzgänger - Teil 2

Kurzgeschichte zum Thema Welten

von  MrDurden

Jeffries Freeway in Richtung Ambassador Bridge. Kühle Herbstluft dringt durch die Lüftung meines neuen 3er BMW. Was Autos anbelangt hatte ich schon immer einen fürchterlichen Geschmack. Brückenpfeiler ragen in der Ferne wie mächtige Wolkenkratzer in den Himmel. Ein gewaltiges Bauwerk, Grenze zweier Welten und gleichzeitig eine von nur zwei Verbindungen Detroits mit Kanada. War vor etwa achtzig Jahren die größte Hängebrücke der Welt. Heute nur eine weitere Selbstverständlichkeit im Alltag von Millionen. Eine Grenze, die ich täglich überquere und doch niemals überwinde.

Ich erinnere mich an die Zeit vor meiner Arbeit bei der Grenzkontrolle. Träumereien von einem ruhigen Leben in Kanada, von einer Familie, einem kleinen Haus mit Schaukelstuhl auf der Veranda und einem selbstgepflanzten Baum im Vorgarten. Das Klischee einer heilen Welt in einem scheinbar friedliebenden Land, wer möchte es nicht erfüllen? Prioritäten ändern sich. Menschen ändern sich. Und auf eine erschreckende Weise fühle ich mich zwischen all den Industrieschornsteinen und heruntergekommenen Wohnblocks schon beinahe heimisch. Nein, Grace hat recht. Wir können nicht bleiben. Es ist einfach zu gefährlich. Nur noch wenige Minuten bis zu dem kleinen Stationshäuschen 6 am Grenzübergang. Und all die Berichte um diese Mordserie wollen mir nicht aus dem Kopf gehen.

Unbewaffnet und wahrscheinlich unmaskiert überrascht er ein junges Paar in ihrer Wohnung. Chloroform oder ein Schlag auf den Kopf, um sie zu betäuben. Dünnes Seil, um sie an Stühle zu fesseln und zu knebeln. Sie sitzen einander gegenüber, während der Unbekannte die Küchenschubladen durchsucht. Mit einem Teelöffel und einem Fleischermesser kommt er zurück und alle Indizien sprechen dafür, dass er sich gerne Zeit lässt. Ein Teelöffel, um dem jungen Mann die Augen aus dem Kopf zu nehmen. Ein Fleischermesser, um ihm die Handgelenke zu durchtrennen. Und während seine Freundin gezwungen ist, alles mit anzusehen, schneidet ihm der Täter mit dem Fleischermesser das Herz aus der Brust. Nachdem er mit seinem Opfer abgerechnet hat, bringt er Augen, Hände und das Herz in einen anderen Raum, kehrt zurück und schließt die Tür hinter sich ab. Was dann passiert ist unklar, doch Vermutungen zufolge setzt er sich vor das traumatisierte Mädchen, betrachtet sie eine Weile lang und streicht mit seinen blutverschmierten Händen über ihr Gesicht. Dann schneidet er ihre Kehle durch und sieht zu, wie sie langsam verblutet. Keine Fingerabdrücke, keine Spuren.

Nach mittlerweile vier Wochen und drei Mordfällen mit exakt diesem Ablauf ist das Motiv dieses Monsters noch immer vollkommen unklar. Doch eines steht fest. In dieser Umgebung können Gracey und ich nicht bleiben. Es ist seltsam, wie die meisten Menschen sich ein Land vorstellen, das sie selbst niemals besucht haben. Vorurteile, Klischees und all der Müll, den uns die Medien täglich schon zum Frühstück servieren. Wo doch beide Seiten dieser kleinen, unbedeutenden Grenze Stunde um Stunde dieselben schönen, traurigen und grauenvollen Geschichten schreiben. Und egal, welche Grenze ich überschreite, welchen Ort ich auch mein Zuhause nenne, keine Tür und keine Fassade kann mich jemals schützen vor dem Wahnsinn der Menschen um mich herum.

21st Street, Grenzübergang in eine vermeintlich bessere Welt. Ich parke meinen geschmacklosen Wagen am Straßenrand, stelle den Motor ab und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Stationshäuschen 6 einer Grenze, die ich täglich überquere und doch niemals überwinde.

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