Grenzgänger - Teil 5

Kurzgeschichte zum Thema Welten

von  MrDurden

„Nach langem Kampf ist ihr Spielzeug nun endgültig dahin. Und ich ertrage den Anblick des Fleisches nicht, das mein Mädchen berührt hat. Also nehme ich seine Augen, seine Hände und sein Herz, werfe alles auf den Küchenboden und schließe die Tür hinter mir ab. Ihr Weinen hat nachgelassen und scheint dem Schock gewichen zu sein. Ich knie mich vor sie und sage ihr, dass ich nie aufgehört habe, sie zu lieben. Ausdruckslos starren ihre Augen in die leeren Höhlen im Kopf ihres Teddys. Sie antwortet nicht. Noch immer bin ich ein Nichts für sie, Jake. Verstehst du das? Ein verdammtes Nichts! Weniger als ein Spielzeug! Weniger als die tote Hülle einer abgeschlachteten Liebschaft! Also nehme ich das Fleischermesser und ramme es ihr in den Hals. Hörst du mich, Jake? In ihren wunderschönen Hals!“

Langsam komme ich zu mir. Noch immer sind meine Hände gefesselt. Mir gegenüber sitzt Grace, ebenfalls geknebelt und an einen Stuhl gebunden. Lawton Street in Core City, Detroit. Ein üblerer Fehlgriff hätte uns nicht passieren können.

Coulter klopft mir auf die Schulter, als würde er sich von einem guten Freund verabschieden. Dann geht er in die Küche und durchwühlt einige Schubladen. Grace hat Tränen in den Augen, doch sie macht einen seltsam gefassten Eindruck. Und plötzlich bemerke ich eine Lichtspiegelung hinter ihrem Rücken. Natürlich, mein Klappmesser. Kaum zu glauben, dass es nach all den Jahren für etwas zu gebrauchen ist. Wieder blendet mich ein Lichtkegel, der durch die kleinen Fenster unserer Wohnung fällt. Sirenen, Lautsprecher, sie sind hier. Doch sie werden es nicht rechtzeitig schaffen. Denn Coulter hat unsere Löffel und ein Fleischermesser gefunden.

„Glaub mir, Jake, das alles hat nichts mit euch zu tun. Du hattest nur das Pech, ausgerechnet heute diese scheiß Grenze sichern zu müssen. Schon witzig, irgendwie erinnere ich mich gerade an etwas, das mein Mädchen immer sagte, bevor ich ihr ein Messer in ihren wunderschönen Hals rammte. Sie sagte, dass Regeln und Grenzen existieren, um gebrochen und überwunden zu werden. Würdest du sagen, ich habe Grenzen überschritten, Jake?“

Er setzt den Teelöffel an den Rand meines linken Augenlids. Zitternd und zähneknirschend balle ich meine Fäuste, als plötzlich von mir abzulassen scheint. Sein Mund und seine Augen sind weit aufgerissen. Der Teelöffel entgleitet seinen drahtigen Fingern und mit einem dumpfen Schlag geht Nathan Coulter zu Boden.

„Bringst du ab heute öfters nach der Arbeit deine Freunde mit nach Hause, Schatz?“

Heulende Sirenen, quietschende Lautsprecher und nackte Wände, dünn wie Pergament. Und egal, wohin ich gehe oder hinter welchen Mauern und Fassaden ich mich verstecke, so bin ich doch niemals sicher vor dem Wahnsinn der Menschen, die mich umgeben. Ein ruhiges Leben in Kanada mit Familie und Veranda mit Schaukelstuhl ist nach meinem ersten intensiven Kontakt mit der Bevölkerung nun keine Option mehr. Und wenigstens diese Nacht werden wir noch in unserem mehr oder weniger trauten Heim verbringen. Schwarzer Kaffee, zwei Tassen, kein Zucker, keine Milch. Und die Sonne ist längst untergegangen. Hinter den mächtigen Pfeilern einer Grenze in eine nicht ganz so andere Welt.

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Kommentare zu diesem Text

Arebina (19)
(04.05.12)
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