Der dritte Wolf - Teil 5

Kurzgeschichte zum Thema Hunger

von  MrDurden

Es ist kurz vor 20:00 Uhr. Längst ist die Sonne hinter den Dächern dieser einsamen Stadt verschwunden. Da spaziert ein toter Mann in das kleine Café und kommt zielstrebig auf mich zu.

„Endlich lerne ich Sie persönlich kennen. Ist mir eine große Freude, einen Autor Ihres Formats zu treffen.“

Er reicht mir die Hand. Ich kann kaum atmen. Das ist unmöglich. Oder ist David Carson tatsächlich der Mann, den ich vor mehr als drei Jahren sterben sah? Jemand muss ihm geholfen haben, nachdem ich gegangen bin. Deshalb war dieser Geschäftsmann anfangs lange Zeit verhindert. Seelenruhig setzt er sich an den Tisch und sein Blick fällt auf mein Buch.

„Darf ich, Sir? Ist wirklich ein schönes Exemplar. Sehr gut verarbeitet. Jetzt, da ich Sie endlich vor mir sehe, schulde ich Ihnen wohl eine Erklärung. Das heißt, warum ich Ihnen mein Angebot vor drei Jahren so schnell unterbreitet habe.“

Ich versuche, mich zu fassen. Mein Erstaunen zu überwinden. Doch es klappt nicht. Er ist es, doch er weiß nicht wer ich bin. Denn ich war zu feige, aus der Dunkelheit zu treten und ihm zu helfen. Gerade eben lag er in meinen Gedanken noch in seinem eigenen Blut. Und nun sitzt er mir gegenüber und bestellt uns schwarzen Kaffee.

„Die Geschichte und die Aussage Ihres Buches ist mir sehr vertraut. Der Titel hat mich letztendlich zur Veröffentlichung bewogen. Ich glaube nicht an Zufälle. Ich möchte Sie Freund nennen. Und ich möchte, dass sie einer von den sehr wenigen Menschen sind, die folgende Geschichte kennen. Ich habe ihn gesehen, Ihren dritten Wolf.“

Ein Schauer jagt mir über den Rücken. Doch ich lasse Carson fortfahren.

„Ich sah den dritten Wolf, als ich noch ein kleiner Junge war. Und mein Bruder Michael sah ihn auch, kurz bevor er starb. Wir waren Kinder, niemand konnte wirklich auf uns aufpassen, uns kontrollieren. Anders als die meisten Geschwister waren wir wie Pech und Schwefel. Wir teilten alles, erzählten uns alles. Michael war ein Mensch, wie ich ihn nie wieder treffen sollte. Wir wohnten in Green Oak, weit außerhalb von Detroit. Dort gibt es einen malerischen See, umgeben von einem dichten Wald. Es war die perfekte Umgebung für zwei Jungs, um aufzuwachsen. Eines Abends blieben wir länger draußen, als unsere Eltern es erlaubten. Es war ein besonders warmer Sommer und wir gingen tiefer in den Wald, als jemals zuvor. Langsam wurde es dunkel. Michael und ich hatten uns verirrt. Wir riefen nach unseren Eltern, doch niemand konnte uns hören. Also beschlossen wir, immer in eine Richtung zu gehen. Irgendwann würden wir schon den Waldrand erreichen. Doch wir schafften es nicht. Es wurde kalt und wir hörten Schritte, die uns verfolgten. Wir hatten entsetzliche Angst, teilten uns auf und legten uns einige Meter voneinander entfernt flach auf den Boden. Und bald sahen wir, dass nicht Menschen uns verfolgten, sondern die glühenden Augen dreier Wölfe.“

Angestrengt versuche ich, meine Nervosität in den Griff zu bekommen und einen Schluck Kaffee zu nehmen. Eine helle Druckstelle um David Carsons linken Ringfinger. Seine ruhige Stimme beginnt zu zittern. Doch er atmet tief durch und setzt seine Geschichte fort.

„Mich hatten sie nicht bemerkt, doch Michael war nicht leise genug. Der erste Wolf sprang auf ihn zu, biss ihm in die Kehle und machte ihn bewegungsunfähig. Der zweite Wolf tappte langsam hinterher. Das Blut meines Bruders tränkte den weichen Waldboden. Und die Tiere stillten ihren Durst daran. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie sich an ihm satt gefressen hatten. Und während Tränen über mein Gesicht flossen, beobachtete ich den dritten Wolf. Er saß auf einem Baumstumpf und tat nichts. Regungslos sah er den beiden anderen beim Fressen zu. Er passte auf, dass kein anderes Tier dem Körper meines Bruders zu nahe kam. Nicht mehr als ein paar Bissen ließen sie von ihm übrig. Und als sie fertig waren, bekam der dritte Wolf das Herz meines Bruders. Ich habe Michael mehr geliebt, als alles andere auf der Welt. Doch Sie und ich wissen, dass der Hunger jedes Tier zu so etwas befähigt. Selbst uns Menschen.“

So hungrig und so listig wie ein Wolf nähre ich mich am Herzen meines Bruders und nenne mich Mensch, wo ich Tier bin.

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Kommentare zu diesem Text

Chino (32)
(23.04.12)
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 MrDurden meinte dazu am 25.04.12:
Danke dir, das freut mich sehr! Viele Grüße, David.
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