Die Krankheit

Bild zum Thema Krankheit/ Heilung

von  Muuuzi

Die Geschichte, die nicht geschrieben werden sollte…

Die Bombe tickte weiter. Die Zeit teilte mit ihr die Sekunden. Endliche Endlosigkeit zwischen den Stühlen, auf denen wir saßen. Graue Muster in Erinnerungen. Die Lampe war nicht hell. Modriges Licht schwankte um uns. Ich vermisste ihn. Ich wollte ihn unbedingt sehen. Am Telefon war er ruhig. Kaum wiederzuerkennen. Er rief mich an. In dem Augenblick, an dem ich an ihn dachte. Ich war unterwegs. Ich war lange nicht daheim. Ich freute mich auf ihn. Doch er sagte nur kurze Sätze, die mein Leben zerstörten.
Er bot mir grauenhaften Kaffee an, den ich annahm und auf den Tisch stellte.
Langes Schweigen. Er wurde fremd. Anders. Etwas hatte sich verändert. Ich hörte seine Atemzüge. Sie waren schwer und kurz. Er überlegte. Ich merkte es an seiner Gestik. Er knabberte an seinen Fingern. Sie waren dreckig. Er hat sich gehen lassen.
Ich fühlte Unbehagen, plötzlich.
Dann sprach er in den kalten Raum.
„Ich bin krank“, sagte er damals nur zu mir. „Ich bin schwer krank!“
Ich schaute ihn an. Wollte nichts glauben. Nichts an mich ranlassen. Keine bösen Nachrichten. Auf keinen Fall. Das Leben war gerade zu schön. Ich war voller Freude und Glück. Ich vermisste ihn so sehr. Doch dann überrollte mich die Realität und ich begriff, was er gesagt hatte.
„Was hast du? Wie kann ich dir helfen?“, meine Füße zerbrachen, wenn sie nicht mit Muskeln übersäht gewesen wären. Weicher als Schlagobers. Oder wie schimmlige Pilze. Blubb. Nur eine Maße aus Blubb.
„Ich kann es dir nicht sagen. Aber diese Krankheit bringt mich zu Tode. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich kann es dir nicht sagen. Du würdest mich hassen!“
„Hassen? Wegen einer Krankheit?“, ich war in anderen Welten.  Ich hörte meine Stimme. Sie wisperte in hohlen Räumen. Sie klang fremd und absurd. Ich  realisierte kaum die Situation. Ich vergaß zu atmen. Zu denken und zu sehen.
Und doch nahmen ihn meine Augen wahr. Dünn war er geworden. Doch seine blonden Haare haben den hellen Glanz nicht verloren. Locken, überall. Seine Brille war verbogen. Und doch mochte ich sie.
Ich kannte ihn schon ewig. Schon Jahre. Schon seit Geburten. Er war mein bester Freund. Alles, was mir je wichtig gewesen ist, war er. Und er sollte sterben? Wegen einer Krankheit?
Ich beobachtete eine Spinne, die mit langen, haarigen Beinen die Wand hochlief. Wie schnell sie sich doch bewegten. Igitt.
Die Uhren drehten durch. Zeit explodierte.
Ich war fassungslos von seiner Aussage, und auch wenn nur Sekunden zwischen meiner Frage und seiner Antwort lag, waren es doch Ewigkeiten.
„Ja. Glaube mir. Aber ich kann es dir nicht sagen. Ich kann dir nur sagen, dass ich bald sterben muss. Ich wollte mich verabschieden. Es fällt mir doch auch so schwer!“
„Bitte. Bitte, sag mir, was dir fehlt. Ich will dir beistehen. Dich beschützen. Dich lieben, wie man einen Freund liebt! Ich bitte dich. Und glaube mir, ich werde dich nie hassen!“
„Doch. Bestimmt. Du wirst es irgendwann erfahren! Ich hoffe, dass ich dann nicht mehr dein empörtes Gesicht ertragen muss. Ich hoffe es so sehr! Ich könnte es nicht. Ich schäme mich zu sehr! Über alle Sinne!“
„Aber du kannst doch nichts dafür, wenn du krank bist.“
„Doch. Ich hatte keine Kontrolle. Ich bin meinen innersten Trieben nachgegangen. Hab gegen sie verloren, anstatt sie zu kontrollieren, verdammt!“
„Was hast du! Sag es mir! Ich muss es wissen. Ich muss einfach!“, ich stand auf und warf meinen Pullover auf den Boden, den ich zuvor noch auf meinem Schoß hatte. Ich blickte mit finsteren Augen. Er kannte diese Blicke. Er wusste, dass er keine Chance hatte. Ich würde nicht nachgeben, bis ich es wusste.
Er nahm seine Hände und barg sie vor sein Gesicht. Er stand den Tränen nahe. Er zitterte.
„Ich… ich… Tilli. Ich kann es dir nicht sagen! Es würde dein Herz zerbrechen. Behalte mich doch bitte in Gedanken wie ich vor langer Zeit war… und nicht… wie ich heute bin. Ich habe mich verändert. Ich bin krank! Ein Kranker, verstehst du nicht?“
„Warum werde ich dich hassen?“, meine Stimme blieb ruhig. Ich stand vor ihm. Er saß zusammengekauert und doch wütend auf dem Stuhl.
„Weil ich Unrecht getan habe!“
Die Spinne hat sich mittlerweile in eine Ecke verkrochen. Es stank in seiner Wohnung. Er hatte schon lange nicht mehr geputzt. Nur unsere beiden Stühle waren sauber. 
„Ich hasse dich!“
„Tilli!“, seine Augen wurden gläsern und zerbrachen in ihrem Inneren. Kleine Kristallperlen suchten sich ihren Weg über seine Wangen.
„Ja… ich hasse dich. Weil du mir so wenig vertraust! Ich habe mich so getäuscht in dich! Ich hasse dich!“, ich erkannte seine Tränen und schloss meinen Mund. Ich habe mich unbewusst ein paar Schritte von ihm entfernt und ging nun wieder auf ihn zu.
„Hej… es tut mir leid. Ich wollte das jetzt nicht sagen! Aber du musst mich auch verstehen! Wir kennen uns schon zu lange. Ich… du… du bist wie mein Bruder. Mein Lieblingsmensch. Du darfst mich nicht verlassen. Bitte! Kämpfe um dein Leben. Wir schaffen das schon wieder!“
„Nein, liebe Tilli. Es ist zu spät. Ich kann meine Krankheit nicht mehr aufhalten. Es ist vorbei.“
„Welche Krankheit ist unheilbar? Du hast doch nicht Aids… und hast jemanden angesteckt? Absichtlich?“, mein Atem blieb stehen. Dies war der einzige Grund, warum ich ihn hassen konnte, so dachte ich. Mein Herz bewegte sich nicht. Es blieb ruhig, bis er zu sprechen begann.
„Nein!“
„Krebs?“
„Nein!“
„Pest?“, ich grinste ihn an.
„Jetzt hör schon auf, du Scherzkeks!“, auch er lachte.
„Na also… So schlimm kann sie nicht sein. Ich verspreche es dir! Wir kriegen das hin.“, ich habe mich vor ihn hin gebeugt. Ich hörte sein angestrengtes Atmen. Ich berührte seinen Oberschenkel und streichelte ihn sanft. „Und ich hasse dich nicht! Egal, was es ist!“
„Das wirst du Tilli!“, seine Stimme ist wieder fest und ernst. Er blickte mich durchdringend an. Er beobachtete meine Augen. Meinen Mund und meine Bewegung.
Ich überlegte damals. Lange. Und doch waren es nur Bruchteile einer Minute. Gedankenfetzen rasten in Höchstgeschwindigkeiten über meine Synapsen. Die Polizei würde ihnen wohl einen Haufen Strafzettel verpassen. Ich schwieg. Ich blieb stumm. Kalt und grau die Welt draußen. Seine Wohnung schimmelt. Überall ekelige Abfälle. Am Boden zerstreut. Die Spüle eine Szenerie aus „Wäh“ und „Pfui“. Der Teppich grauenerregend. Fliegen. Überall diese Fliegen. Und ihr nervendes Surren und Schwirren. In der ganzen Wohnung. Doch ich ließ mir nichts anmerken von meinem Ekel. Es gab wichtigeres. Doch ob ich es damals wirklich begriffen habe, weiß ich leider nicht mehr. Ich kann es mir nicht vorstellen. Ich habe es vielleicht auch nur vergessen.
Ich würde seine Wohnung putzen. Ihm zumindest dabei helfen. Schon bald wird alles wieder gut sein! Ich war schon wochenlang nicht mehr bei ihm. Es hat sich einiges geändert. Ob es die Krankheit war, die ihn zerfraß? Die Nachricht klopfte zwar an meinem Hirntor, aber niemand machte auf. Schock! Verdrängen! Nichtwahrhabenwollen! Wie auch immer.
„Bitte lass mich dir helfen!“
„Du kannst nichts mehr für mich tun! Ich bin dir dankbar, dass du eine so gute Freundin warst. Wirklich. Das werde ich dir niemals vergessen!“
„Was hast du?“, ich war den Tränen nahe.
Er atmete tief durch. Seine Hose war befleckt.
„Ich habe was Furchtbares getan!“
„Was?“
Er schwieg.
„Was hast du getan?“
Er wusste, dass er jetzt weiterreden musste. Er wusste von Anfang an, dass er es mir sagen würde. Er konnte nicht lange stur bleiben.
„Ich habe…!“, er stockte.
„Tilli, ich will vorher dass du weißt, dass ich dich liebe!“ Er sah mich an. Nicht wie sich Freunde ansehen. Anders. „Ich liebte dich schon immer. Unfreundschaftlich… meine ich. Aber trotz allem, wirst du mir das dennoch nicht verzeihen!“
Ich war sprachlos. Ich denke mal, mein Kiefer war ausgehängt. Ich sah ihn nur an. Was ich gedacht habe, weiß ich nicht mehr. Was ich gefühlt habe… dasselbe.
„Bitte sag mir, was du getan hast! Ich werde immer zu dir stehen! Immer!“, meine Stimme war leise. Fast stumm.
„Ich habe ein Kind missbraucht!“, er seufzte. Er sah auf den Boden. Er bewegte sich nicht. Blieb still.
„Du hast was?“, meine Stimme war noch nicht zurückgekehrt.
„Ich habe sie vergewaltigt. Ich wollte es nicht. Ich war nicht ich… Ich… bin ein Kranker. Ein Geistesgestörter. Ich habe es dir doch gesagt! Ich wusste, dass du mich hassen würdest!“
Ich schloss die Augen. Mein Mund stand immer noch offen.
Ich war weg. Konnte die Worte nicht erfassen. Nicht verarbeiten. Der liebste Mensch auf der Welt war…
Ich starrte auch auf den Boden. Lange Zeit.
„Wann? Wie? Wieso?“, murmelte ich irgendwann aus meinem Kopf.
„Ich weiß nicht. Ich hatte ein so großes Verlangen nach ihr. Sie sah aus wie du. Als Kind. Sie erinnerte mich so sehr an dich. Wie wir früher gespielt hatten. Sie war erst sieben. Ich weiß nicht, wie es so weit kam. Ich habe sie in meine Wohnung gelockt und vergewaltigt. Ich war eiskalt. Ich hatte kein Erbarmen, obwohl sie schrie und weinte. Sie konnte nichts dafür. Ihr Leben wird für immer zerstört sein. Ich hielt ihr den Mund zu. Ich zog ihr ihr Kleid aus. Ich war ein Monster….“, er stockte. „Ich bin es immer noch. Ein Monster… das nicht leben darf, verstehst du mich? Ich will nicht so sein! Ich will kein böser Mensch sein! Doch ich bin einer! Und das kann ich nicht mehr rückgängig machen. Egal, was ich mache! Und wenn ich die Welt in Gold verwandle. Und wenn ich es nie wieder tun würde. Es ist zu spät. Meine Zeit ist gekommen. Ich bin krank und muss dafür bezahlen. Muss sterben. Die einzige Genugtuung. Für sie. Wenn überhaupt.“
Ich schwieg. Ich sah ihn nicht an. Ich tat nichts. Ich atmete nicht. Ich zwinkerte nich. Ich dachte nicht.
„Es tut mir so leid. Ich werde dich immer lieben. Ich muss es tun. Vergib mir, bitte!“
Dann stand er auf und ging in das Nebenzimmer. Ich realisierte seinen Schatten. Dann hörte ich den Schuss.

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Kommentare zu diesem Text

KoKa (44)
(13.04.12)
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 Muuuzi meinte dazu am 13.04.12:
Dann musst dir was warmes anziehen! :)
Karmesin (20)
(13.04.12)
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 Muuuzi antwortete darauf am 15.04.12:
Danke.
Lg
ChristianChaperon (32)
(25.06.12)
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 Muuuzi schrieb daraufhin am 25.06.12:
Danke, ein unbequem schöner Kommentar! :)
Aber wer braucht schon Bequemlichkeit?
ChristianChaperon (32) äußerte darauf am 25.06.12:
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 Muuuzi ergänzte dazu am 25.06.12:
Da hast du Recht. Ein unbequemes Bett z.B. ist nicht sonderlich vorteilhaft! :)
zitroenchen (27)
(31.07.12)
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