Liebe auf einen Zug

Gleichnis zum Thema Liebe, vergangene

von  pentz

Am liebsten fahre ich ziellos Zug, ja wirklich. Ich habe eine sogenannte Mobikarte, da kann ich in einem riesigen Umkreis kostenlos Zug herumreisen. Und am liebsten setze ich mich gegenüber jemanden, der schläft. Zuvor bin ich durch die Abteilungen gegangen und wenn ich auf einen Schlafenden gestoßen bin, versuche ich mich in seiner Nähe zu platzieren. Das hat so etwas Beruhigendes für mich. Ich bin nicht allein einerseits, andererseits fühle ich mich nicht durch die Anwesenheit eines anderen herausgefordert. Ich muss nichts spielen, wenn sie mich verstehen. Ein Schlafender hat etwas unsäglich Ruhiges, was er ausstrahlt. Ja Ruhe. Das ist unbeschreiblich relaxend und beruhigend, kann ich ihnen versichern.
So saß ich eines Tages vor einer schlafenden Frau, nur den Kopf nach vorne genickt, schlummernd, kaum Atemstöße von sich gebend, drollig in sich versunken, wie nur Frauen es können.
Plötzlich jedoch öffnete sich ihre Augen, als fühle sie sich von jemanden dazu aufgefordert, der sie gerufen habe. Ihre Pupillen, offen und in die Ferne gerichtet, mussten mich nicht suchen, sondern hatten mich mit dem Augenaufschlag im Fokuss und fixierten unverrückbar die meinigen. Eine Ewigkeit
Aber: „Beobachten Sie mich?“, kam es hervor.
„Ja!“, verblufft. „Ein bisschen! – Pause – Hin und Wieder!“ Und zur Unterstützung dessen, dass ich sie ja nicht hartnäckig verfolge mit meinen Blicken, hob ich meinen Stift und mein Blatt Papier, krauste die Stirn, um nach Gedanken zu suchen und um wieder weiter zu schreiben, was ich damit vorgab, vorwiegend und die meiste Zeit getan zu haben.
Mir fiel jedoch nichts ein. Stattdessen wanderten meine Blicke immer wieder zu ihr hinüber bzw. kreuzte sich mein Blick mir ihren stetig auf mich gerichteten.
Nun fühlte ich mich verpflichtet, etwas zu sagen, Konversation zu treiben, irgend ein Gespräch in Gang zu setzen, um die Versteift- und Verkrampftheit zwischen uns Fremden aufzulockern.
„Sie sind müde?“
„Nein, nicht mehr!“
Das war wiederum eine Aufforderung, etwas zu sagen. Aber nur was? Andererseits hätte ich lapidar das Gespräch abbrechen können mit: „Aber ich will Sie nicht weiter stören!“ Wenn ich es denn gekonnt hätte. Aber ich war unweigerlich in Bann geschlagen.
Der zu große Quader, ein Schmuckstück, der als Ring fungierte. Der musste doch schwer am Finger hängen? Warum tat sie sich das an? Die feingezeichneten Lidschatten, die blauen, künstlichen Krähenfüsse und das akkurat zugeschnittene Haar, das grell-rot mit Henna gefärbt war. Das musste ein Aufwand gewesen sein.
Aber er lohnte sich, wenn sie nach Aufmerksamkeit heischte!
Fragiles, Bruchstückhaftes und Verletzliches – wie ein Frauenbildnis Picassos.
Sie hielt große Stücke auf sich selbst, wollte die Aufmerksamkeit Außenstehender erregen. Das war nicht plump, nicht anmachend, das war mit ungeheuer viel Liebe, Zeit und Energie aufgestellt worden. Diese Frau hielt sehr viel auf sich, was mich verführte wie ein Stück Gold, vor dessen Anziehungskraft man sich nicht losreißen kann.
Ich musste weiterreden, ohne dass ich es wirklich wollte. Ich hatte in diese Mitte vorzustoßen, zu erkunden, was dieses frauliche Kunstwerk daselbst zusammenhielt.
Doch hinter der Maske ihres Gesichtes drang ich nicht.
Wie konnte ich die Augen schärfen, um näher an sie heranzukommen, ohne dass es auffiel?
So fiel mein Blick auf ihre Kleidung mit der Überlegung, was hinter ihren dezenten, grauen und dennoch edlen Stoffen verborgen lag: hinter langem Rock aus schwerer Seide wie bei Schlossvorhängen, Räumen in herrschaftlichen Villen und der Bluse, die so viel Falten mit an den Schultern sich bauschenden Rüschen schlug?
Ulkig, weil überdimensioniert, waren die bis über die Waden reichenden braunen Stiefel, die am Schaft spitz auseinanderliefen wie bei einem Dekolté. Und dann die scharf zulaufenden Fußspitzen, die gefährlich wirkten.
Das war ein Stilbruch. Vielleicht auch nicht, waren die klobigen Stiefel auch Abwehrschutz – vor was aber? Jedenfalls vor der Umwelt. Banal logisch.
Wovor wollte sie sich schützen?
Gleichzeitig, weil sie sich derartig modisch und aufwändig schminkte und kleidete, versuchte sie die Aufmerksamkeit anzuziehen. Das war wiederum ein Schrei nach Liebe, so laut wie er sich grell gestaltete.
Diese Frau, auch als ich sie näher kennenlernte, ließ niemanden über eine imaginäre Line bis an sich heran. Ihre Augen, unbeweglich, unverrückbar-konzentriert einem betrachtend, ließen die Mauer nicht einstürzen und nichts hindurch. Ihr unerbittlicher, klarer Blick war Distanz, welche zu durchbrechen, ich zu keinem Zeitpunkt nur einen klitze-kleinen Moment schaffte. Daran war nicht zu rütteln. Ich musste sagen, sie verlor sich niemals in einen anderen, zeigte keine heftige Emotionen, kurzum konnte nicht lieben. (Ich muss hier kurz erwähnen, niemals nicht auch habe ich die geringste Spur einer Schweißbildung auf ihrer weißen Haut bemerkt.)
Das zog mich an in einer Weise, die etwas mit Altruismus zu tun hat. Ich wollte den Eisklotz zu ihrem eigenen Segen zum Schmelzen bringen. Sie sollte erfahren, wie liquide sie war. Wie schön es war, zu lieben.
Heute weiß ich, dass man das nicht tun sollte. Aber ich betrachtete sie wie einen klinischen Fall und ich war ihr Therapeut wider Willen. Da sie mir krank erschien, billigte ich ihr keinen Willen zur Heilung zu und alles was ich unternehmen würde, bedeutete nur therapeutisch heilsamer Schmerz, der ihrer Gesundung zugute käme.
Ich sage nochmals und zum Abschluss: das war eine Fehleinschätzung. Warum? Weil sie letztlich stärker war als ich. Ein Eingeständnis, das von schwerem Herzen kommt.
Na gut, so etwas kann man nicht voraussehen. War’s der Versuch wert?
Darüber sollen andere befinden.

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Kommentare zu diesem Text

KoKa (44)
(25.05.12)
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Regentrude (52)
(25.05.12)
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