Stillleben mit Pflanze

Text zum Thema Innenwelt

von  Bella

Es war wieder eines dieser Gedankenbilder, das da in einem unerwarteten Moment eintrat, ohne jede Form von Vorsichtigkeit, jenes, das die tiefen, ernsten Schmerzen heranwinkt, die sonst unbeteiligt an der Seite des Lebens stehen, wie im Schatten einer mittelalten, grauen Häuserwand, an der man manchmal, abends, wenn kein Bus mehr fahren will, vorbeihuschen muss. Einmal herangerufen, betreten sie das Innerste mit ihrem schrecklich leisen Schritt, mit einer ruhigen und selbstvergessenen Bestimmtheit, als hätte sich der Körper nicht diese Mauer aus Liebe, Fröhlichkeit und guten Erlebnissen zusammengestapelt und die zweifelnden Stellen neben Mund, Augen und am Bauch mit Mörtel verschmiert, sein ganzes bisheriges Dasein lang. Nur das Herz versucht sich am Widerstand gegen die unaufhaltsamen Eindringlinge auf seine eigene Art: Wie ein Igel zieht es sich zusammen und scheint seine gesamte, noch verbleibende Kraft in einem kleinen Haus zu sammeln, das keine Tür zur Außenwelt hat.

Es bemächtigte sich ihrer, wie sie da saß, an dem schmucklosen Tisch im dämmrigen Zimmer und auf ein paar vertrocknende Zweige in einer braunen Vase starrte. Vertrocknet, aber dunkelgrün - wie konnte das sein? Die pflanzlichen Überreste standen steif und stolz, als hätte ein ungestümes Liebespaar sie hier als Zeichen seiner unaussprechlichen Gefühle abgestellt und sei dann in Selbstvergessenheit aus dem Raum gestürzt. Wie konnten diese halbtoten Stengel das hoffende Dunkelgrün in ihren zerknautschten Blättern bewahrt haben? Sie stützte ihre Ellenbogen auf. Vielleicht hatten auch sterbende Pflanzen ein Herz und immer dann, wenn sie hinsah, traf sie genau den Moment, in dem sich das verkrampfte Organ nach einem Schlag entspannte und sich das grüne Pflanzenblut längs der Stiele ergoss. Wie könnte sie nur auch so aus sich heraus leben, allein in diesem sich selbst mehr und mehr verdunkelnden Raum?

Den Kopf abwechselnd in den Händen haltend und dann wieder ablegend fand sie keine Ruhe und erschien doch still, fast unbeweglich. Sowohl ihr Körper als auch alle Empfindungen und Stimmungen, von denen sie doch bisher dachte, sie würden zu ihrer Person gehören, schienen nun im Raum zu stehen, indem sie die Luft dicker machten und sich einen Platz im Unsichtbaren suchten. Hatten die hereingezogenen Schatten die anderen, vielfältigen, doch auch in ihr wohnenden, Wesen herausgestoßen, sodass diese sich jetzt als Obdachlose und Verlorene immer um sie herumtreiben und um Wärme und Almosen betteln würden? Könnte sie ihnen je wieder den roten Teppich auslegen und mit stolzen Blicken auf sie, ehemalige Bewohner ihres Ichs, hinunterschauen? In diesen Stunden schien einfach nichts mehr zu ihr zu gehören, nichts, außer dieses kleine verschlossene und schmerzende Haus, in das sie sich jetzt am liebsten ganz zurückgezogen hätte wie in eine betäubende Leere.

Noch war ihr kleines, blutwarmes Herz weder leer noch konnte es einfach, das Fühlen betäubend, stillstehen. Ahnte sie bereits, dass ihre ganze Lebenskraft tatsächlich in diesem einen, fast unerschöpflichen Pfefferkuchenhaus ihres Inneren von der grinsenden Hexe unserer Glücksmomente gefüttert wurde? Und als sie plötzlich vor Schmerz auffuhr, den Stuhl, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, umstieß und aus dem dunkel gewordenen Zimmer rannte, hätte sie schon fast bemerkt, wie allein durch ihre entschlossene, ruckartige Bewegung einige eingedrungene Schatten aus ihrem geöffneten Mund rutschten und sich ein paar der obdachlosen, altbekannten Wesen zeternd und ängstlich an ihre Hose klammerten, während andere sich erschrocken im Raum zerstreuten und zurückblieben.

Die vertrocknenden Pflanzenzweige in der braunen Vase entschwanden mit ihren sich rasch entfernenden Schritten aus den Bildern in ihrem Kopf. Sie hatte es den imaginären Geliebten gleichgetan: Fastgrüne Blätter und Stiele wurden zum Spiegel ihrer kaum nennbaren Gefühle und dann für immer, halbwelk, zurückgelassen. Keiner bekam so mehr mit, wie das restgrüne Leben in den Zweigen, unbetrachtet, wie es in dem lichtlosen, einsamen Raum stand, auf Dauer vergilbte. Und als am folgenden Tag der nächste Mensch das Zimmer betrat und das erstarrte Gelb mürrisch aus dem Fenster warf, damit es dort, unter der Sonne, vielleicht zu Erde werde, verließen auch die übrigen verlorenen Stimmungen den Raum und suchten, in ihrer anhänglichen Art, nach anderen träumerischen Lebewesen, um es sich wieder heimisch zu machen.

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Kommentare zu diesem Text

fragilfluegelig (49)
(01.08.12)
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 Bella meinte dazu am 01.08.12:
Danke! Ich freue mich wirklich sehr über deinen Kommentar! Habe "Wo die wilden Kerle wohnen" nicht gelesen/angeschaut, aber vielleicht sollte ich das mal nachholen :)
Viele Grüße in den Abend,
Bella
fragilfluegelig (49) antwortete darauf am 01.08.12:
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