[Auftakt]

Erzählung zum Thema Fremde/ Fremdheit

von  Diablesse

Karline wusste nicht, wo schlafen. Also wach bleiben. Sie irrte durch die große Stadt, nicht, weil sie nicht wusste, wo es lang geht, sondern weil sie kein Interesse daran hatte, irgendwo hinzukommen. Plötzlich fand sie sich vor diesem Punkschuppen wieder, dann darin und dann vergingen Stunden. Es galt eine weitere Nacht zu überstehen, mit Fremden, mit betrunkenen Fremden. Niemand interessierte sich für sie oder sich selbst, aber das war auch gut so. Karline saß auf der Treppe, trank Sterni und rauchte eine Selbstgedrehte nach der nächsten.

Carsten stammte aus einer Kleinstadt – eigentlich war das eine Übertreibung. Er war vom Lande, doch am Wochenende flüchtete er vor der Einsamkeit der Weite und Menschenleere in die überfüllte Stadt. Eine Bekanntschaft hatte Geburtstag. Vergebenes Mädel, mit dem er das ein oder andere mal eher schlecht als recht schlief. Das alles hatte keine Bedeutung mehr, jedes Wort verlor sie mit jedem Tag, mit jedem Herzschlag. Fragwürdiger Anlass zur Flucht, fragwürdige Rettung, aber das war Carsten egal. So egal wie dieses Mädel, oder jedes andere. Also setzte er sich in den Zug, war in einer Stunde am Ziel und traf auf besagtes Mädel mit den kunterbunten Haaren und Nietengürteln. Es war kalt. Er begleitete die Horde Punker von einer Mitte zur nächsten – in ihren Schuppen. Schon von gehört, ja, aber wollte er dort wirklich jemals hin? Was wollte Carsten je überhaupt.

Auch seine Stunden vergingen darin, wie die jedes anderen. Gleichgültig, betrunken, fremd. Er setzte sich auf eine Treppe, trank Sterni und rauchte eine Selbstgedrehte nach der nächsten. Irgendwann gegen morgen zog die Bekannte mit ihrem Stecher ab. Carsten hätte nichts egaler sein können, auch das sein Schlafplatz gerade davontorkelt, war ihm vollkommen gleich. Unter anderem auch, weil er mit Karline ins Gespräch kam. Sie war genauso betrunken wie er, saß dort, trank und rauchte. Karline war obdachlos. Als Carsten das erfuhr, fielen ihm auch die schmuddlige Jeans und die zerschlissene grüne Jacke auf. Aber auch das war ihm so egal. Er fand sie faszinierend, wie sie aus ihrem Leben erzählte, als wäre es ein zynischer Film und sie die Sprecherin, die gelangweilt darüber berichten müsste. Er schloss diese Fremde in Arme und Herz, lallte mehr oder weniger Mögensbekundungen, wusste aber, dass er diese auch nach dem Ausnüchtern wiederholen könnte. Einen wildfremden Menschen zu mögen fiel Carsten wesentlich leichter, als in einen Spiegel zu sehen. Die zerrissene Iris, die ihn auf beiden Gesichtshälften entgegenstierte, benebelte er am liebsten mit Ganja. Seine roten Augen gehörten genauso zu ihm wie der russische Akzent zu Karline. Sie hatte auch zu viele Tulpen hinter den Lidern, doch lag das an ihrem Kajal, den sie zweifarbig trug und der hervorragend zu Carstens outfit passte, das aus einer schwarzen Hose, schwarzen Springern und einem roten Pullover bestand. Sie mochte seine Eismeeraugen. Von seinen Blicken bekam man Erfrierungen. Er stellte ihr viele Fragen, wollte, dass sie viele Worte mit „r“ sprach, mochte auch, wie sie seinen Namen hauchte.

Als Carsten Karline von der Bekannten und seinem davongelaufenem Schlafplatz berichtet, ist sie überrascht, als er fragt, ob er nicht bei ihr schlafen könne. Ob er denn wisse, was das bedeutet, bei einer Obdachlosen zu schlafen. Sie lachten beide trocken. Im Oktober höchstwahrscheinlich frieren. Sie hatte wohl ein Zelt, aber sie hatte auch noch einen Bekannten, bei dem sie und ihr Bruder hin und wieder schliefen. Im kaltkargen Sonnenschein machten sie sich auf den Weg durch die halbe Stadt. Sie liefen viel, und froren wenig. Der Alkohol machte sie taub.

Die Straßen waren leer, dreckig und allesamt grau. Er war sich sicher, dass er noch nie so etwas Schönes gesehen hatte. Stumm machte er Blickfotos fürs Seelenalbum. Stumm, weil Karline schwieg. Sie war müde und der Weg weit. In einer beliebigen Straße nach einer beliebigen Zeit blieb sie abrupt stehen und sagte: Hier. Sie gingen leise hinein und Karline wies zielstrebig auf einen leeren Raum. Nicht menschen- aber möbelleer. Carsten war auch das egal. Sie legten sich auf ihre Jacken und schliefen aneinandergeschmiegt ein. Zwei Fremde unter einem fremden Dach.

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Kommentare zu diesem Text

Gringo (60)
(07.06.12)
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 Diablesse meinte dazu am 07.06.12:
DAS freut mich ehrlich, zumal ganze Sätze und Kohärenz nicht so zu meinen Stärken gehören. Vielen Dank!
Ascheregen (30)
(07.06.12)
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Ascheregen (30) antwortete darauf am 07.06.12:
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 Diablesse schrieb daraufhin am 07.06.12:
ja, prosa. und nun schrei mich nicht so an. manchmal ist es zeit für sinnzusammenhänge und mehr als verse mit wortbruchstücken. und wieviel spaß das machen kann. am meisten freut mich, [trotzdem] positive resonanz zu bekommen.

spannungskurve? ich mag gerade das alltägliche an der geschichte eigentlich.

nett. oh je. ich hab doch was falsch gemacht.

den eigenen dreck mit dem der straße tauschen. lieber t., das war schon wieder höchstniveau. warum schwankst du immer von genialen, zu platten aussagen zum mittelmaß? (;

Vielen Dank!
Grüße aus BBB
BBA (45)
(09.06.12)
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 Diablesse äußerte darauf am 09.06.12:
Vielen Dank für deine Meinung zum Text, über die ich mich wirklich sehr freue. Ich wollte nicht eine weitere alltägliche Geschichte schreiben, auch wenn sie das am Ende der Thematik wegen leider irgendwie doch ist. Mittels Sprache die moderne Isolation in einem kohärenten Text wiederzugeben, war für mich eine Herausforderung. Es machte mir Spaß, mich dieser zu stellen. Um so mehr freue ich mich auch, dass diese Arbeit - besonders von dir - gewürdigt wird.

Viele Grüße, Caro
BBA (45) ergänzte dazu am 09.06.12:
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