Ausgeräumt

Sonett zum Thema Apokalypse

von  Isaban

Es ist unendlich weiß an diesem Orte,
das schmale Bett ein blendend blasser Hafen.
Jetzt schläft sie und man lässt sie lange schlafen.
Erst gestern schnitt man ihr die Worte

aus dem Bauch, mit ihrem Kind, das niemals schrie.
Ganz bleich liegt sie und still. Noch atmet sie.
Ihr Leib: ein fahler Berg aus Dysplasie,

geschächtet und entbeint und irgendwie
sehr gründlich nicht mehr da, als sei sie nie
gewesen, was sie war. Noch atmet sie.

Es ist unendlich weiß an diesem Orte,
das Bett ein heller Fleck im grellen Nichts,
die Augen tränen angesichts des Lichts;
erst gestern amputierte man

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Kommentare zu diesem Text


 ViktorVanHynthersin (13.06.12)
Ein heftiger Text - gut geschrieben.
Herzliche Grüße
Viktor

 Isaban meinte dazu am 13.06.12:
Herzlichen Dank, Viktor
und liebe Grüße,

Sabine
LudwigJanssen (54)
(13.06.12)
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 Isaban antwortete darauf am 13.06.12:
Hallo Ludwig,

bei dieser Sonettform handelt es sich um eine dem Inhalt angepasste Lemniskate, eine Sonettform, bei der die Terzette von den Quartetten umarmt werden, Reimschema abba- cde-edc-abba. Die Lemniskate wurde nach der liegenden Acht benannt, die das Symbol für Unendlichkeit ist und ist besonders geeignet, um nicht linearen Inhalten eine in sich geschlossene Form zu verleihen. Ich habe das hierbei übliche Reimschema der Terzette abgewandelt, um durch die Haufenreime die stummen Schreie/ das nach Innen Ausbrechen neben dem Klang (ie) auch durch die Form zu verbildlichen.
Zum "weißen Hafen": Ich weiß, was du meinst. Angedacht war die Weißwiederholung als Verstärkung, beziehungsweise hinweis darauf, dass das Bett, also der eigentliche Ruhepol auch keine Ausnahme vom "unendlichen Weiß" bildet, sondern ebenso Bestandteil des "grellen Nichts" ist. Ich grüble mal, ob und wie ich da was ändern kann.

Hab vielen Dank für deine hinterfragende Rückmeldung.

Liebe Grüße,
Sabine
managarm (57)
(13.06.12)
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 Isaban schrieb daraufhin am 13.06.12:
Danke, Frank.

 Irma (13.06.12)
Die Diagnose, ein missgebildetes Kind im Leib zu tragen, stellt eine Frau vor eine schwer zu treffende Entscheidung. Soll sie das Kind trotzdem austragen? Auch dann, wenn es unter Umständen nicht lebensfähig sein wird? Meist wird ihr zur Abtreibung geraten. Aber selbst wenn die Frau einwilligt, ist dieser schmerzvolle Vorgang wohl nur schwer zu verkraften.

Du hast hier gut zum Ausdruck gebracht, wie der Frau mit der Entnahme des Kindes physisch und psychisch Gewalt angetan wird. Sie ist dem Ganzen ausgeliefert, muss alles über sich ergehen lassen. Die Brutalität und Grausamkeit wird durch den Vergleich zur Tierschlachtung besonders eindrücklich („geschächtet und entbeint“). Plötzliches Ende einer Schwangerschaft, es bleibt nur noch diese riesige leere Bauchhülle, ihres lebendigen Inhalts beraubt: ein Anblick, der kaum zu ertragen ist und eine Todessehnsucht entstehen lässt („lange schlafen“). Das doppelte „Noch atmet sie.“ unterstreicht diesen Wunsch, am liebsten dem Kind folgen zu wollen, die Augen zu schließen vor der grellen, „unendlich weißen“ Krankenhaus-Realität.

Überhaupt werden Mutter und Kind hier parallel gesetzt, die Mutter liegt auch nur noch „ganz bleich“ und „still“, ihr fahler Bauch erscheint missgebildet wie das Kind. Die Sprachlosigkeit der Mutter entspricht dem Kind, „das niemals schrie“. Der Verlust des Kindes führt zum Verlust der Worte, gut hervorgehoben durch den Hebungswegfall in Z.4 und Auftaktwegschnitt in Z.5 beim langen Bauchschnitt. Da wurde etwas getrennt, was eigentlich untrennbar zusammen gehört, ein gewichtiger Teil „amputiert“, so wie das Ende der letzten Verszeile.

Mir gefällt gerade auch die ungewöhnliche Form dieses „fehlgebildeten“ Sonetts. Die beiden Quartette umarmen dabei die Terzett-Synthese, so wie der Mutterbauch dieses verlorene Kind umfasst hat. Sehr eindringlich geschrieben! LG BirmchenIrmchen
(Kommentar korrigiert am 13.06.2012)

 Isaban äußerte darauf am 13.06.12:
Die Diagnose, ein missgebildetes Kind im Leib zu tragen, stellt eine Frau vor eine schwer zu treffende Entscheidung. Soll sie das Kind trotzdem austragen? Auch dann, wenn es unter Umständen nicht lebensfähig sein wird? Meist wird ihr zur Abtreibung geraten. Aber selbst wenn die Frau einwilligt, ist dieser schmerzvolle Vorgang wohl nur schwer zu verkraften.

Auch das ist eine sehr interessante und in sich stimmige Interpretation, liebes Irmchen! Ich gebe zu, dass ich beim Schreiben die Dysplasie ursprünglich auf den nicht/falsch funktionierenden Mutterleib bezog, finde aber auch deine Auslegung sehr schlüssig und nachvollziehbar.

Du hast hier gut zum Ausdruck gebracht, wie der Frau mit der Entnahme des Kindes physisch und psychisch Gewalt angetan wird. Sie ist dem Ganzen ausgeliefert, muss alles über sich ergehen lassen. Die Brutalität und Grausamkeit wird durch den Vergleich zur Tierschlachtung besonders eindrücklich („geschächtet und entbeint“). Plötzliches Ende einer Schwangerschaft, es bleibt nur noch diese riesige leere Bauchhülle, ihres lebendigen Inhalts beraubt: ein Anblick, der kaum zu ertragen ist und eine Todessehnsucht entstehen lässt („lange schlafen“). Das doppelte „Noch atmet sie.“ unterstreicht diesen Wunsch, am liebsten dem Kind folgen zu wollen, die Augen zu schließen vor der grellen, „unendlich weißen“ Krankenhaus-Realität.

Hach, ich liebe es, wenn meine Stilmittel funzen - und noch mehr, wenn ich dann auch noch eine Rückmeldung bekomme, die genau das belegt! Danke! :*

Überhaupt werden Mutter und Kind hier parallel gesetzt, die Mutter liegt auch nur noch „ganz bleich“ und „still“, ihr fahler Bauch erscheint missgebildet wie das Kind. Die Sprachlosigkeit der Mutter entspricht dem Kind, „das niemals schrie“. Der Verlust des Kindes führt zum Verlust der Worte, gut hervorgehoben durch den Hebungswegfall in Z.4 und Auftaktwegschnitt in Z.5 beim langen Bauchschnitt. Da wurde etwas getrennt, was eigentlich untrennbar zusammen gehört, ein gewichtiger Teil „amputiert“, so wie das Ende der letzten Verszeile.

Danke und nochmals danke, besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können.

Mir gefällt gerade auch die ungewöhnliche Form dieses „fehlgebildeten“ Sonetts. Die beiden Quartette umarmen dabei die Terzett-Synthese, so wie der Mutterbauch dieses verlorene Kind umfasst hat. Sehr eindringlich geschrieben!

Und mir dein herrlich ausführlicher Kommentar, der so wundervoll auf Stilmittel und Wirkung eingeht, dass ich dich knutschen könnte. :D

Merci beaucoup und

liebe Grüße,

Sabine

 AZU20 (13.06.12)
Sehr realistisch und deshalb auch schmerzlich beim Lesen. LG

 Isaban ergänzte dazu am 13.06.12:
Ich dank dir schön, Armin!

Liebe Grüße,

Sabine
Christianna (49)
(13.06.12)
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 Isaban meinte dazu am 13.06.12:
Danke, Christa!
Caty (71)
(13.06.12)
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managarm (57) meinte dazu am 13.06.12:
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janna (66) meinte dazu am 13.06.12:
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 Irma meinte dazu am 13.06.12:
Die "Dysplasie" und der gesamte Aufbau des Sonetts trieben meine Gedanken in diese Richtung. Aber es gibt mit Sicherheit verschiedene Lesarten für dieses abrupte Schwangerschaftsende. LG BirmchenIrmchen
(Antwort korrigiert am 13.06.2012)

 loslosch meinte dazu am 13.06.12:
dysplasie heißt fehlbildung.

 Isaban meinte dazu am 13.06.12:
Hallo, ihr Lieben!

Ja, Dysplasie heißt Fehlbildung. In meinem Text bezieht sich dieser Ausdruck auf den (ausgeräumten) Mutterleib. Natürlich liegt es nahe, die "Fehlbildung" assoziativ auf das Kind zu übertragen, angedacht und vom Satzzusammenhang her angelegt war allerdings ein Hinweis auf das Nichtfunktionieren, auf die Missfunktion des Mutterleibes. Nun, die Interpretation obliegt immer den Lesern und ob da jetzt ein "krankes" oder ein "gesundes" Kind oder aber nur eine "Idee" tot geboren wurde, ist im Grunde egal, die Lücke, die es hinterlässt ist gravierend.

@ Caty: Oha, ich ahnte gar nicht, dass ich über "lebensunwertes Leben" schrieb. Das könnte allerdings daran liegen, dass nichts davon im Text zu finden ist, gelle? ;)

Liebe Grüße euch allen,

Sabine
janna (66)
(13.06.12)
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 Isaban meinte dazu am 13.06.12:
Ich glaube, da gibt es kein "schlimmer" oder "besser", Janna, es ist immer und im schmerzhaftesten Sinne ein Weltuntergang.

Liebe Grüße,

Sabine

 irakulani (13.06.12)
Habe selten einen so apokalyptischen Text gelesen, denn so empfindet Frau das, wenn ihr nicht nur das Kind, sondern auch die Möglichkeit je wieder eines zu gebären, genommen wird. Ausgeräumt.

Sehr aufrüttelnder, starker Text, Isaban!

L.G.
Ira

 Irma meinte dazu am 13.06.12:
Au ja, Ira, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Der Bauch ist komplett ausgeräumt, der Wunsch von einem Kind für immer ausgeträumt ... Das macht die ganze Situation noch schmerzvoller und hoffnungsloser. LG BirmchenIrmchen
Caty (71) meinte dazu am 13.06.12:
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 loslosch meinte dazu am 13.06.12:
ich seh da auch nix dolles in dem sonett. trotzdem sollten die konträr gestimmten parteien ihr mütchen im stillen kühlen.

vllt. schreibt einer mal, so nett?, ein sonettchen über die mutter der 2 gesunden buben, die den 3. fötus abtreiben ließ, weil sie von den plagen die schnauze voll hatte.

eine apokalypse der dritten art. könnte einem auch die tränen in die augen treiben ... lo

 irakulani meinte dazu am 13.06.12:
@ Caty:
"Ihr Leib: ein fahler Berg aus Dysplasie,

geschächtet und entbeint und irgendwie
sehr gründlich nicht mehr da, als sei sie nie
gewesen, was sie war. Noch atmet sie."

und ich bleibe dabei: Das wird hier von der Protagonistin als persönliche Apokalypse erlebt.

Ira

 Isaban meinte dazu am 13.06.12:
Hallo zusammen!
Apokalypse bedeutet Zeitenwende, Weltuntergang, Gottesgericht - und genau so fühlt es sich wohl an, wenn derartige Umstände einen Lebenstraum ausräumen, vernichten, unmöglich, beziehungsweise unlebbar machen. Ob man nun im Text einen globalen oder einen persönlichen Weltuntergang sieht oder ganz einfach einen Anlass Schrei- oder Schreibkrämpfe zu kriegen, das bleibt jedem Leser selbst überlassen und darf zwar Grund zur Diskussion, sollte aber auf keinen Fall Begründung für unsachliche Einwürfe und Herabsetzung der anderen Meinungen sein.

@ Ira: Daher der Titel. Im "ausgeräumt" klingt auch ein "ausgeträumt" an. Ein Lebenstraum wurde zerstört, eine Welt geht unter.
Hab vielen Dank für deine Rückmeldung und das Hineinfühlen in die Verse.

Liebe Grüße,

Sabine

@ Irmchen: Auch dir vielen Dank für deine erneute Auseinandersetzung mit dem Text. Ich freue mich sehr, dass er so zu berühren vermag.

Liebe Grüße,

Sabine

@ Caty:

Und wenn ihr jetzt noch die "Apokalypse" in diesen mittelmäßigen, rührseligen Text hineininterpretiert, krieg ich Schrei(b)krämpfe.

Oh, das tut mir aber leid!

Liebe Grüße,

Sabine


@ loslosch:

vllt. schreibt einer mal, so nett?, ein sonettchen über die mutter der 2 gesunden buben, die den 3. fötus abtreiben ließ, weil sie von den plagen die schnauze voll hatte.

Au ja, Lothar, sei so nett. Viel Spaß dabei. Ich schau auch gern mal rein und bewundere dein Werk.

Liebe Grüße,

Sabine
Regentrude (52)
(13.06.12)
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janna (66) meinte dazu am 13.06.12:
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 Isaban meinte dazu am 13.06.12:
Klasse, liebe Trude, herzlichen Dank!
Gruszka (62) meinte dazu am 13.06.12:
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Regentrude (52) meinte dazu am 13.06.12:
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