Metaphysische Kartongeschichte

Gleichnis zum Thema Tod

von  Kleist

Ein loses Ende irgendwo. Ich ziehe daran. Eine Ladung Pappkartons verteilt sich über das Zimmer. Und nein, das ist nicht, das wird nie gut, denn sie sind alle leer. Und außerdem habe ich sie ja bloß zur Dekoration benutzt. Und um dahinter die Schönheit meiner Seele zu verstecken. Einer Seele, die glänzt, wenn man nur ein wenig darauf haucht und sie dann mit einem trockenen Tuch poliert. Und manchmal gibt sie auch Töne von sich: "Huuuäääöööarch!" oder eine Art hohen, halblauten Triller. Ein Denk-Geräusch wie ein Kratzen und Schaben auf Karton.
Umzugskarton.
Und deswegen sind die Kartons auch leer: Wenn schwingend die Seele dieses Äon, dieses Welt-Reich verlässt, um in die Volksrepublik einer höheren Dimension aufzusteigen, nimmt sie nämlich nichts mit. Und nur ein letzter Gedanke dieses materiellen Hirns kratzt über den leeren Karton, der dann ins Zimmer fällt, sich noch ein bis drei Mal überschlägt, und dann ...
Nichts mehr, er bleibt einfach liegen. Leer und mahnend.
Und die Seele ist nicht auffindbar, wie eine unhörbare Frequenz, die nie auf dem Notenblatt stand.
Und ich stehe und schaue. Schaue aus dem Fenster, wie einst Gott durch das Fenster meiner Seele geschaut hat. Stehe, schaue, staune, schaue ich - in die Welt, die sich vor mir bis zum Horizont ausbreitet, sichtbar.
Und ich greife nach den Linien, Schraffuren und Kringeln, aus denen sie sich  zusammensetzt und sortiere sie nacheinander in die Kisten und Kartons, die gleichsam Särge für diese vergängliche Materie darstellen. Und doch: die Form bleibt unverweslich, wie ein trockener Knochen, von dem alles Fleisch abgenagt ist.
Und ich weiß: Im Garten ist extra ein Beet abgeerntet worden (Kartoffelsorte Linda), um zwei Meter tief das Erdreich abzutragen. Und die Kapelle setzt an:
„...Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt...“
Majestätisch zieht die Prozession der Koboldgnome, je zu sechst einen Umzugskarton geschultert, gefüllt mit den Formen und Farben dieser vergänglichen Welt, hin zu dem ausgehobenen Blumenbeet und versenkt die kostbare Fracht im Erdreich.
Und auch ich verneige mich ehrfurchtsvoll, die Musik der Kapelle schwillt an, hält inne, hallt nach ...
„...denn sie tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nacht...“
... und dann nichts mehr. Schweigen, Leere, ein zaghaftes Kratzen. Auf Karton.

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Kommentare zu diesem Text


 loslosch (04.07.12)
fürs auge wie hulle.

tipp: die 373 wörter rauskopieren und fettschrift wählen.

die zeilenschübe gefallen mir (meist) nicht. nicht alle redundanten "und" sind entbehrlich. aber einige schon!

jetzt ahne ich, was auf mich zukommt. ich ahnte es doch immer schon. lo
MarieM (55) meinte dazu am 04.07.12:
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 Kleist antwortete darauf am 04.07.12:
Mit den "und" habt Ihr recht irgendwie.

Ich habe allerdings spontan zu viel Respekt vor diesem Text, der sich wie ein Traum entwickelt hat.

Mal seh'n, ich denk mal drüber nach.

@Loslosch: Ich weiß selbst nicht, was da noch kommt - aber so langsam werd' ich wieder produktiver.
MarieM (55) schrieb daraufhin am 04.07.12:
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