Einführung

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  bluedotexec

Abby, jetzt, 03:47 Uhr

Eine Melodie füllt den Raum. Meine Sinne weigern sich, mir weiter so zu Diensten zu sein, wie sie es sollten. Stattdessen vermischen sie sich, geben mir die widersinnige Information, diese Abfolge von Pfeiftönen zu schmecken, zu riechen, was auch immer. Doch eigentlich ist es auch sinnlos. Kein Geräusch außer diesem. Alle anderen Empfindungen werden überflüssig, das Lied verdrängt ihre Notwendigkeit aus dem wahrnehmbaren Universum.
Aus der Verletzung in meinem Bauch sickert Blut. Schnell. Schneller, als ich an mein Mobiltelefon gelangen könnte. Schneller, als ein Krankenwagen die Hauptstraßen entlang donnert. Schneller als meine Armbanduhr auf vier Uhr morgens zutickt.
Schneller als die Kugel, die mir die verfluchte Baucharterie durchtrennt hat.
Matthew hat mich erschossen.
Die Melodie ist verstummt. Ich kann jetzt den Regen hören, der draußen fällt, seit Tagen die Welt durchnässt. Ich lebe schon lange nur in der Nacht, und er macht sie schön. Sie macht ihn schön.
Völlig unverständliches Gefasel, was Matthew gesagt hat. Schon erbärmlich. Du bist Auftragsmörderin. Du wirst erschossen. Dein Mörder gibt nur Stuss von sich und du trittst ab.
Wasser erreicht meine Taille, Baumwolle saugt sich damit voll, mein Hintern wird nass.
Na ja, lange wird mich das wohl nicht mehr stören. Meine Augen sind geschlossen, aber ich glaube sowieso nicht, dass noch genug Blut vorhanden ist, um sie in Betrieb zu halten.
Geschweige denn genug Kraft, um sie zu öffnen.
Meine Güte, du bist ja jämmerlich.

Judy, vor acht Jahren, 20:21 Uhr

Dad muss bald hier sein. Die ganze Wohnung duftet nach dem herrlichen indischen Pakora, das Mom für uns alle gekocht hat, und Panir in Mandelsauce. Dad liebt dieses Essen.
Die Äste der alten Eiche schlagen gegen die Wohnzimmerfenster. Mom schneidet Karotten in Streifen. Es klingelt an der Tür.
Die alte Kristallschale, die Dad von seinem Großvater geerbt hat und in der wir alle unsere Autoschlüssel ablegen, geht zu Bruch. Die Eingangstür knallt in den Spiegel, schnelle Schritte, vom Teppich gedämpft, stürmen durch die verschachtelte Wohnung.

Mr. Mellencamp, jetzt, 03:48 Uhr

Land of my high endeavour,
Land of the shining river,
Land of my heart for ever,
Scotland the brave.
Ha. Fantastisch.

Mr. Mellencamp, vor drei Tagen, 06:12 Uhr

Wasser prasselt mir in den Nacken. Auf der Straße fällt der Regen, wäscht den Dreck in einem fort aus dem Asphalt, auf dem ich kämpfen muss, um am Leben zu bleiben, den Revolver immer unter der Schulter, wie einen alten Herzschrittmacher.
Ein alter Mann, voller Zorn und besessen vom Wahn.
Frank Sinatra streut mir Worte ins Ohr.
This Town is a lonely Town / not the only Town like-a this Town.
Fuck, er hat recht. Es ist zum Kotzen. Ich hämmere lustlos mit der Hand gegen die Fliesen.
Ein unverständlicher Ruf und mehrmaliges Hämmern antworten mir aus der Wohnung ein Stockwerk höher.
Der Bastard da oben ist noch älter als ich.
Jeder in diesem Haus hat eine Aufgabe, die zum Befinden der Mieter beiträgt.
Das Crack-Mädchen aus 1C erbricht sich in den Flur, damit der chinesische Fettsack aus 1B am Morgen etwas zum Wegwischen hat – von seiner Fußmatte (er hat jede Woche mindestens eine neue). Dabei macht er ein furchtbares Geschrei, das die alte Jungfer aus 2A weckt, die dann zu mir hoch kommt – nicht sofort, versteht sich, sondern etwa achtzehn Stunden später, nachts um halb eins, am besten auf einen Mittwoch, wenn ich schon längst schlafe. Sie sagt dann immer das Gleiche: „Verzeihen Sie, Mister Mellencamp, Sie sind doch Polizist. Könnten Sie den Herrschaften von unten nicht ein bisschen Benimm beibringen? Heute morgen haben sie es schon wieder gemacht.“
Ich sage immer nein, aber sie trägt ihr Hörgerät nicht, und wenn sie es täte, wäre es ihr wohl egal.
Im Appartement neben mir, 3C, wohnt ein ziemlich kranker Wichser, der alle zwanzig Minuten irgendeinen Porno guckt, und sicher keinen netten. Ich versuche etwa ab 22:00 Uhr, die Geräusche mit einem Kissen zu ersticken, aber all das Würgen, Platschen, Schreien, Betteln und Jammern dringt trotzdem zu mir durch und sorgt beizeiten dafür, dass ich gar nicht mehr einschlafen kann und an Judy und Sarah denken muss. Meist nehme ich dann Tranquilizer, in der Regel Mirtazapin und Trazodon, eine Mischung, die selbst einen Bären umhaut. Heruntergespült mit Single Malt, mir besorgt von dem Typen aus 4D, den man immer dann hört, wenn der Pornofreak nicht da ist oder seinem Penis etwas Ruhe gönnt.

James Furtado, vor acht Jahren, 09:36 Uhr

„Es ist kein schöner Anblick, weiß Gott nicht.“ Sagt der forensische Leichenbeschauer zu mir, ich kann mir seinen Namen einfach nicht merken. So oft ich mich dafür entschuldige, so oft lacht er sein kleines ironisches Lachen und sagt: „Darauf kommt es nicht an.“
Heute werden wir diesen Dialog nicht führen.
Auf dem Boden liegen zwei weiße Tücher, ausgebeult, die undeutlichen Umrisse von Menschen zeichnen sich darunter ab.
„Jim, bitte vertrau' mir. Du willst das nicht sehen. Ich kann dir sagen, was wir bisher haben, aber sieh' es dir nicht an.“
„Ich hab' schon eine Menge gesehen.“ Sage ich und schlucke. Soweit ich mich erinnern kann, hat noch nie ein Rechtsmediziner so mit mir gesprochen.
„Das hast du noch nicht gesehen. Außerdem – du kennst die beiden. Bitte, zwing' mich nicht.“
Ich seufze, gespielt, gekünstelt. In Wahrheit geht mir sein eindringliches Bitten durch Mark und Bein.
„Na schön, dann erzähl' mal.“
Er blickt kurz auf sein Klemmbrett, doch das ist nur zum Schein.
„Multiple Frakturen in Armen und Beinen, Schnittverletzungen an Bauch, Oberkörper, Genitalien. Verbrennungen an fast allen sekundären Geschlechtsmerkmalen und im Gesicht. Die Bauchdecke wurde geöffnet und das Intestinum tenue mit einem Haken – oder so – herausgezogen. Beide Opfer wurden offenbar vergewaltigt. In dem wenigen Blut, das wir noch sicherstellen konnten, wurden diverse Psychopharmaka gefunden, die darauf schließen lassen, dass die Opfer künstlich bei Bewusstsein gehalten wurden. Soll ich weiter machen?“
„Es geht noch weiter?“ Frage ich fassungslos.
„Die Liste wird an dieser Stelle detailliert, das können wir uns auch sparen.“
„Diese Drogen – warum wurden sie den beiden verabreicht?“
„Das sagte ich doch gerade; die Opfer sollten bei Bewusstsein bleiben, während man ihnen all das antat.“
Oh mein Gott. Zusehen, wie man selbst ausgenommen wird wie ein totes Schwein, gleichzeitig vergewaltigt und regelrecht geschlachtet zu werden und all das mit ansehen zu müssen – und nicht nur bei sich selbst, sondern auch noch bei der eigenen Mutter... oder Tochter...“
Erbrochenes bedeckt plötzlich meine Armani-Slipper.

Mr. Mellencamp, vor drei Tagen, 06:16 Uhr

Der Junge aus 4D hat eine Freundin, die ihn eines Tages verlassen wird, so sicher wie das Amen in der Kirche. Jedes Mal, wenn ich die beiden im Hausflur sehe, wird mir das klarer. Wie sie sich Arm in Arm liegen, küssen, necken, Liebeleien zuwerfen. Wie sie sich voller Zuneigung ansehen und berühren, gleichzeitig in den Augen des jeweils anderen versinken. Allein vom Zusehen wird der eigene Bedarf an Liebe mehr als gedeckt.  Außerdem sind sie beim Vögeln ziemlich laut.
Aber Gott ist kein Daily-Soap-Fan, er steht auf zynische Tragik. Auf eine Art hündisches Romeo und Julia, nur dass das Gift durch einen Vierzigtonner und der Dolch durch einen tiefen kalten Fluss ersetzt werden müssen.
Und genau in einem solchen wird die Freundin von 4D eines Tages Selbstmord begehen. Einfach, weil sie ein so perfektes Paar sind.
4B, das Appartement gegenüber von 4D, liegt genau über meinem Appartement und wird von einem verbitterten Krimiautor bewohnt, der jede Gelegenheit nutzt, seine Existenz noch einmal unter Beweis zu stellen – ob man sie anzweifelt oder nicht. So wie eben. Ein einzelnes, nicht einmal kraftvolles Rumsen mit der Faust, und er dreht durch. Ich lasse eine Tasse fallen – was einmal im Jahr vorkommt – und er dreht durch. Ich schalte den Fernseher zu laut ein – und er dreht durch. Ich lege eine CD auf, und die Aufnahme ist zu laut – und dem verfluchten Bastard von oben knallt irgendeine Sicherung durch, und schon hämmert er wie ein tollwütiger Affe mit einem Topf oder Hammer auf die alten Leitungen der Zentralheizung, so dass ich nicht einmal bei voller Lautstärke Musik hören könnte, wenn ich wollte.
Nicht, dass Sie jetzt denken, ich würde mich dafür interessieren, was für ein Zirkus in diesem Haus vor geht. Aber das ist er, und ich bin Teil davon. Und so läuft mein Alltag: Ich gehe zur Arbeit, komme wieder, und die Crackhure hat in den Flur gekotzt. Der Chinese hat schon gewischt, aber der ekelhafte Geruch der Grütze aus halbverdautem Junkfood, Limonade, Vicodin und Würdelosigkeit hängt noch in der Luft. Auf meiner Etage höre ich diese Menschen-Zerhackungs-Kakophonie, wenn der Pornowichser einen neuen Fake-Snuff-Film gefunden hat, und irgendwann geht das dann nahtlos in die Liebesgeräusche des Pärchens über. Und zu all dem, in unregelmäßigen Abständen, das alles übertönende Gehämmer eines einsamen, ungelesenen Schriftstellers.
Gott, wenn ich eine Nachtschicht habe, bekomme ich keine Minute Schlaf, weil tagsüber... na ja.
Ich wurde zum Zuhause bleiben verdonnert. Das Jahr senkt sich tief in den Herbst hinein und ich hatte noch keinen Tag Urlaub, und damit kommt der Vorstand des Präsidiums nicht klar. Also sitze ich vier Wochen am Stück hier ab und lasse mich von meiner Wahleinrichtung erdrücken.
Wohnzimmer. Eine Fensterfront, kein Fernseher. Eine Couch, für seltene Übernachtungsgäste. Die Westwand bedeckt eine Patina aus Zeitungsartikeln, Fotos, Spuren, Indizien, Beweise, ganze Ketten von logischen Zusammenhängen, die irgendwo hin führen, die meisten ins Leere, einige an ein Ende, das das Falsche ist.
Die Wand gegenüber ziert eine riesige Karte, ein Plan dieser Stadt, der umliegenden kleineren Siedlungen und Dörfer und des Geländes. Kleine Flaggen, Kreuze, verschiedenfarbige Stecknadelköpfe verteilen sich durch das ganze Gewirr aus Straßen. Beobachtungsposten. Tatorte. Treffpunkte für Informanten. Kneipen, in denen man bestimmte Leute häufiger trifft. Kleine Wohnungen, die leer stehen, falls in der Nähe jemand beobachtet werden muss.
Im Arbeitszimmer türmen sich illegale Kopien von Fallakten, Gerichtsprotokolle, Fotos, Filmrollen von Verhören. Ich selbst war schon seit Wochen nicht mehr da drin, weil ich fast alle Fakten aus diesem Panoptikum der Kriminalistik in meinem Kopf habe. Die Tür ist immer zu, und falls Furtado vorbei kommt, schiebe ich einen Schrank vor die Tür, damit er bloß nicht sieht, dass ich nicht nur eine zwei-Zimmer-Wohnung habe.
Im Schlafzimmer ist es noch schlimmer. Am Fußende meines Betts hängt ein Arzneischrank. Darin befinden sich ein paar Pflaster, zwei verschiedene Verbandrollen und eine Flasche Desinfektionsmittel, die sicher kontaminierter ist als der Rest der Wohnung, weil sie schon seit Jahren hier steht (all das dient weniger der Wundversorgung als viel mehr dem Alibi, das Ding „Arzneischrank“ nennen zu können). Der größte Teil, nämlich drei der vier Fächer, wird von verschiedensten psychotropen Substanzen eingenommen. Ritalin. Tilidin, Hydrocodon, Dextrometorphan, Diazepam, Codein-Hustentropfen. Für die verzweifelten, dunklen Momente, in denen mir nach einer Nachtschicht ein neuer Gedanke, ein neues Indiz aufgegangen ist, und ich nur noch nach Hause hasten will, um ihn irgendwie in die Westwand einzubauen. Aber auf dem Beifahrersitz sitzt Furtado, stiert durch die regennasse Windschutzscheibe und beobachtet durch ein Schaufenster, wie ein Drogendealer, ein Mordverdächtiger oder ein Vergewaltiger in einem Pastetenladen sitzt und sich vollstopft.
Aus irgendeinem Grund hat er dabei immer eine unglaublich interessierte Miene aufgesetzt und betrachtet die Zielperson, als würde ihm in dieser Sekunde klar werden, was die Lösung des Falls ist. Ich kann ihn in diesem Zustand nicht lange ansehen.
Ich eile nach Hause, überlasse James den Wagen und die Schlüssel und stürze durch den Kotzeflur drei Stockwerke hinauf in meine Wohnung, notiere auf irgendeinem Stück Papier oder Pappe einen Namen, ein Datum, einen Ort oder eine Begebenheit.
Dann stehe ich atemlos, nass, die Tasche noch in den Händen vor der Wand, die sich vor mir auftürmt wie ein höhnisch starrendes Götzenbild, blicke abwechselnd den Zettel und irgendeinen der Indizienfäden an, und mir wird klar, dass ich nicht einen Zentimeter voran gekommen bin.
Dann öffne ich meinen Medizinschrank.
Die natürlichen Substanzen sind im untersten Fach. Konfisziertes Marihuana, konfiszierter Göttersalbei. LSD; das habe ich noch nicht angerührt. Ich weiß nicht einmal, wieso ich es habe. Baldriantropfen, ein ganz besonderer Scherz, den ich mir höchstpersönlich erlaubt habe. Marihuana zum einschlafen, damit mir der Fehler unwesentlich erscheint – was er, objektiv betrachtet, ja auch ist. Doch nicht für mich. Keiner dieser Fehler.
Ich drehe den Wasserhahn ab, und die letzten heißen Tropfen und Takte fallen auf meinen Kopf.
Ich schätze, wenn ich eine Frau heran- und mich auf Dinge wie Liebe und Vertrauen einließe, kämen auch noch ein paar Sexualneurosen zum Vorschein.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (24.04.19)
Keine Ahnung, um was es hier gehen soll.

Eine gute Nacht wünsche ich.
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