Im Fernsehen

Kurzprosa zum Thema Fiktion

von  RainerMScholz

Wir haben alles gesehen. Wir haben die Verstümmelten, die Versehrten, die Vergasten und die Toten gesehen. Wir sahen Auschwitz, Srebrenica und Ruanda. Der Holocaust starrte in unser Wohnzimmer und wir starrten zurück. Das Fleisch wimmelte von den Maden und die Gedärme lagen bloß. Frauen liefen umher mit offenen Haaren und offenen Brüsten und offenen Leibern. Blauangelaufene kleine Körper liegen im Straßengraben. Die Machete schneidet die Körper entzwei. Knüppel prügeln, Kugeln zerfetzen. Von einem Augenblick zum anderen ist ein Mensch ein Loch in der Welt, ist nicht mehr da, ein Gewesener, ist Pulverdampf, Qualm und Rauch. Niemand erinnert all die Namen. Und Menschen.
Wie Mehlsäcke liegen Alte und Kranke in der Sonne der unbarmherzigen Glut eines nichtendenwollenden Untergangs.
Wir haben Städte und Länder in Flammen gesehen und brennende menschliche Fackeln, Berge von Leichen und Männer, die weinten. Frauen halten kalte tote Säuglinge an ihrer Brust, Frauen ohne Haupthaar, Frauen, die Opfer vieler Vergewaltigungen geworden sind und noch werden. Frauen und Männer die noch sterben werden.
Wir haben Kettenfahrzeuge gesehen, die über die Leiber fuhren und ganz entmenschte Himmel. Wir sahen die Heime, in denen die Versehrten wohnen, die Ungestalten, wo die Krüppel aufbewahrt werden, wo Krankenschwestern in weißen glatten Kitteln still durch die Reihen der Betten gehen, um letzte Handreichungen den lebenden Toten zu erweisen, die stumm und taub und blind auf das Ende warten.
Das alles haben wir gesehen und keine Träne geweint. Wir haben die Vergasten gesehen. Wir haben die Ermordeten, Vergewaltigten, die Entfleischten und Vergeudeten gesehen. Die Verschwundenen, die Ausgesetzten, die Verhungerten.
Das alles schauten wir und sahen doch nicht. Wir haben Gott gesehen, als wir blind in die Sonne sahen und warfen uns zu Boden, um zu beten.
Und wir beteten. Inbrünstig. Gott erschien im brennenden Dornenstrauch. Er hatte die Fernbedienung in der Hand.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text


 Pingui (20.07.12)
Alles sehr echt und detailliert dargestellt. Interessant zuzuhören, aber auch irgendwie heftig, wenn man versteht, was da abgeht...
Grüße,
Benni

 RainerMScholz meinte dazu am 21.07.12:
Leider und verständlicherweise ohne Anspruch auf Vollständigkeit in der Aufzählung.
Dank und Gruß,
R.

 TrekanBelluvitsh (30.04.13)
Auch Fernsehen ist ein Medium, dass man lernen muss zu beherrschen, denn sonst fällt es einem schwer, den Unterschied zwischen der 'tagesschau' und 'Wetten dass?' zu erkennen.
(Kommentar korrigiert am 30.04.2013)

 RainerMScholz antwortete darauf am 30.04.13:
Der Unterschied ist vielleicht das applaudierende Publikum.
Grüße,
R.
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