Stadtsplitter

Kurzprosa

von  Schreiber

Stadtsplitter

Was heißt das, geschätzt in Jahren, es ist eine Generation her? Nach dem Maßstab unserer Zeit fünfundzwanzig vielleicht, grob gerechnet. Bauhaus also vor vier Generationen, mal ganz über den Daumen, vier Generationen und zwei Weltkriege.
„So ein kleines Bad!“
Die Dicke stammt ohne jeden Zweifel aus der vierten Generation mit Tendenz zur fünften, irgendwas vom Weltkrieg hat sie früher mal in der Schule gehört, der zeitliche Abstand zwischen dem Tag ihrer Geburt und dem Richtfest dieses Dessauer Meisterhauses liegt, falls sie sich jemals Gedanken darum gemacht haben sollte, offensichtlich außerhalb ihrer Vorstellung, und wieder: „So’n großes Haus mit so einem kleinen Bad auch! - Ich denke, die hier waren wer, die hatten doch Geld?“
Und den Blick für das Wesentliche. Ich will nicht fragen, ob sich das Leben der Dame da vorn hauptsächlich im Bad und auf dem Klo abspielt. Vor der Antwort fürchte ich mich.
„Bauhaus? Dürfen denn die hier den Namen von der Kette einfach so benutzen? Oder gehören die dazu?“
Neo Rauch, so weit muss man gar nicht gehen, Clauss Dietel reicht schon völlig, um Geister zu scheiden. Pinakothek, Grünes Gewölbe oder Louvre, auch nicht alles für jeden zuträglich, aber schon darüber zu reden statt über den Benzinpreis von morgen oder das Schnäppchen von gestern, das ist der Grund, warum ich mir manche einlade in meine Wohnung und andere eben nicht. Eine Bierflasche kriege ich schon auch auf, so ist es nicht, doch die ist Requisit der Nebenrolle in einem geselligen Kreis, in dem übrigens das Bier aus Gläsern getrunken wird. Denen, die ich einlade, ist ohne beigelegte Bedienungsanleitung noch bekannt, wie das geht. Ein wenig Stil, ein Stück Kultur in der Lässigkeit des Wochenendes, darauf möchte zurückgreifen können, wer dem Leben mehr abzugewinnen bereit ist als nur den vulgärmateriellen Schmalzstreifen fettiger Kontostände. Nochmals zu den vier Generationen. Wie viele Währungsreformen, wie viele große und kleine Inflationen hat es währenddessen gegeben? Das zur Verlässlichkeit von Geldbeträgen.
„Was jetzt, ist das schon alles, bloß so durch das Haus? Na, am Ende sind das Zimmer, wie wir sie auch haben. Das in der Mitte kannste noch nicht mal schön einrichten, mit so ’ner Fensterfront bis unten. So würde ich nicht wohnen wollen, nee!“
Kommentar?
Darauf dann doch einen Schluck gleich aus der Flasche.

Stadtmitte und Einkaufspassage, regnerisch, Gedränge am Feierabend, quengelnde Kinder an der Hand ungeduldiger Mütter, volle Einkaufswagen und nervtötende Durchsagen, was nur heute noch zu diesem einmaligen Tiefpreis zu haben ist. Christian Fuhrman, ein verrückter Kerl mit Charisma und Intelligenz, hat mir mal, als ich völlig fertig vor meinem Computer gehockt habe und nicht weiter wusste, eine befreiende Erkenntnis zugerufen, die geeignet ist, selbst in diesem Konsumlabyrinth eine halbwegs entspannte Sichtweise zu entwickeln. „In Mitteleuropa gibt es gegenwärtig zwei Dinge nicht: aussichtlose Situationen und einmalige Gelegenheiten“, hat er gesagt und, weil ich meine Situation dennoch weiterhin aussichtslos fand, gab er die Lösung mit dazu: „Liefere deinem Chef irgend etwas ab und schreib drüber, es wäre das, was er haben wollte. Der glaubt das dann schon, und wenn nicht, wirst du es ihm erklären, bis er es glaubt.“
Ich denke gern an die beiden nicht vorhandenen Dinge. Die Durchsagen bekommen einen ganz anderen Hintergrund dadurch. Auch der Blick nach vorn wird entkrampft.
Ein paar verlotterte Jugendliche, die sich als Punks verkleidet haben, um sich nicht zu häufig waschen zu müssen, hocken mit einem Rudel genauso ungepflegter Hunde unter den Arkaden vor der Passage, weil sie da der Regen verschont. Flaschen liegen herum. Ab und zu steht einer von den Burschen mit den halb rasierten und halb zumeist grünrot gefärbten Haaren auf und quatscht die ausweichenden Passanten an, ob sie ihm nicht mal einen Euro geben könnten. Der Erfolg ist mager, aber das bewegt die Bittsteller nicht. Im Grunde gehen sich hier zwei Welten aus dem Weg, obwohl sie einander gegenseitig behindern, die eine die andere in ihrer Bewegung, die andere die eine in ihrem Verharren unter den Bögen. Sie berühren sich nur manchmal über die Frage nach Geld, ohne sich dabei besonders zu reiben. Beide Seiten ignorieren einander weitgehend. Nur die Kinder bleiben oft neugierig vor den vielen Hunden stehen und werden dann von den Eltern erschrocken weggeführt in bürgerlichere Bereiche der Ladenstraße.
Keine zwanzig Meter weiter bieten Juweliere und Parfümerien jeglichen Luxus an, der in diesen Kategorien zu haben ist. Modehäuser von Schal bis Schuh, Kaffees, Supermärkte, Bäckereien, Fotofachgeschäfte, Weinhandlungen und Hochzeitsausstatter, alles ist da, alles wird umflutet von Leuten, die keine Zeit haben, kein Ziel haben, kein Geld haben, etwas anderes suchen oder wollen oder sich einfach nur verlieren möchten in der Menge.
Eins aber fehlt.   
Der Buchladen.
Natürlich gibt es Bücher in Hülle und Fülle zu kaufen, in mehrgeschossigen Gebäuden großer Handelsketten auf kilometerlangen Regalen, aber den wirklichen, den feinsinnigen Buchladen, in den ich hineingehen und sagen kann: „Wissen Sie, ich such das Bändchen, wo auf Seite zweiundsiebzig der Gärtner dem Stallburschen das Geheimnis der Blumenvase…“
„Nein, nein, ich denke, das war auf Seite vierundsiebzig, und wenn ich recht überlege, müsste es eine Übersetzung von Lawrence sein…“ klettert drei Stufen die Leiter hoch und „ach ja, da ist es, sehen Sie?“
Und dann ist es das auch.
So ein Laden fehlt überall, wo ich hinkomme.

Mit der Kamera durch die Stadt gehen, nicht megapixelbesessen wie der optische Chirurg,der den Wimpernschlag der Ameise zwischen den Gehwegplatten tiefenscharf und unverwischt einfangen möchte als ein technische exaktes Bild vom Leben, sondern sich einlassen auf Grobkörnigkeit und Licht, auf Unschärfe und Vieldeutigkeit, auf Heiterkeit und Trauer.
Meine Kamera für fünf Euro fünfzig aus der Ramschkiste beim „Kittlinger - Fotos und Technik für den schönsten Augenblick“. Berauschende 1,2 Mpixel. Das Handy kann mehr. Und im Grunde weniger. Nur die Sache mit dem schönsten Augenblick geht mir ein wenig gegen den Strich, denn woher sollte Herr Kittlinger wissen, was mein schönster Augenblick ist und ob ich ihn überhaupt festhalten und so der Banalität des jederzeit Abrufbaren preisgeben wollte? Aber das ist ohnehin meine Entscheidung, und für fünf fünfzig sowieso.
Da habe ich zugegriffen.

(geht weiter, wenn mal wieder Zeit dazu ist....)

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (16.04.20)
"Ein paar verlotterte Jugendliche, die sich als Punks verkleidet haben, um sich nicht zu häufig waschen zu müssen" - herrlich!

 Dieter_Rotmund (02.07.20)
Immer noch klasse Text!
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